Referat

Direkte Demokratie oder bürgerfeindliche Politik

Die europäische Union wird immer grösser. Bekanntlich werden per 1. Mai 2004 zehn neue Staaten der Union beitreten. Sie alle haben mit grosser Mehrheit dem Beitritt zur Union zugestimmt, weil sie…

Nationalrat Walter Schmied, Moutier (BE)

Die europäische Union wird immer grösser. Bekanntlich werden per 1. Mai 2004 zehn neue Staaten der Union beitreten. Sie alle haben mit grosser Mehrheit dem Beitritt zur Union zugestimmt, weil sie sich von diesem Beitritt eine wirtschaftliche Entwicklung und Reformen versprechen.

Immerhin konnte in praktisch allen Beitrittsländern das Volk über den Beitritt ihres Landes abstimmen. Für die Bürgerinnen und Bürger war es dann auch relativ leicht, ein – mehrheitlich deutliches JA zum EU-Beitritt auszusprechen, weil ihnen dieser doch einige Vorteile bringen wird – in wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer aber auch in staatspolitischer Hinsicht.

Direkte Demokratie als Selbstverständlichkeit

Dies wäre für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger in der Schweiz etwas anders. Während in diesen Ländern das Stimmvolk nur selten befragt wird, ist es in der Schweiz geradezu selbstverständlich, dass das Volk über einen EU-Beitritt entscheidet. Und anders als in diesen Ländern, müsste der Stimmbürger bei seinem Urnenentscheid über einen EU-Beitritt schwerwiegende Nachteile, gerade in Bezug auf unsere direkte Demokratie – mitberücksichtigen.

Der Beitritt der Schweiz zur europäischen Union würde zu einer Einbusse an direkter Demokratie führen, was zwangsweise auch den Verlust von Volksrechten nach sich ziehen würde, und zwar in dem Umfang, als die Schweiz Rechtsetzungskompetenzen an die EU abtreten müsste. Bereits im Vorfeld der EWR-Abstimmung wurden Studien in Auftrag gegeben, welche aufzeigen sollten, wie viele Abstimmungsvorlagen durch EU-Recht ganz- oder teilweise erfasst würden. Aufgrund dieser Zahlen wurde dann festgestellt, dass die Auswirkungen einer EU-Mitgliedschaft auf die direkte Demokratie geringer sei als befürchtet. Doch für die Bürger ist nicht die Anzahl, sondern die politische Bedeutung der einzelnen Abstimmungsvorlagen, über die sie nicht mehr entscheiden könnten, ausschlaggebend. So sagen diese Zahlen nichts darüber aus, dass das Initiativrecht der Bürgerinnen und Bürger, der Parlamentarier und der Kantone meistens daran scheitern würde, dass das Recht der EU dem Recht der Eidgenossenschaft vorgeht. Auch dass mehr als die Hälfte von fakultativen Referendumsvorlagen nicht mehr abgestimmt werden dürfte, sagen solche Zahlen nichts aus. Das Selbstverständnis der Schweizerinnen und Schweizer, wonach sie praktisch über jedes staatliche Handeln entweder direkt mitentscheiden oder sich mittels Initiative oder Referendum für die Herbeiführung eines Volksentscheides einsetzen können, müsste abgelegt werden. Auch der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofes hat gegenüber dem „Kurier“ erklärt: „Die Republik Österreich muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass alles Recht in Österreich vom Volk ausgeht, d. h. demokratisch legitimiert ist“.

Das Demokratiedefizit der EU

In der Schweiz fühlen sich die Bürger nicht bloss als Zuschauer der Akteure einer politischen Klasse. Sie wollen ihr Schicksal selber bestimmen. So kann es nicht sein, dass ihnen für den Verlust ihrer Mitbestimmung im eigenen Staat so genannte Mitentscheidungsrechte in Brüssel angeboten werden. Bundesrat Kaspar Villiger hat in seiner 1.-August-Rede im Jahre 2000 dazu treffend gesagt: „Es ist logisch richtig, dass die Mitsprache in Brüssel den Verlust an Demokratie in gewisser Weise kompensiert. Aber es sind Berner Behörden und Beamte, die in Brüssel die Mitsprache wahrnehmen, während der Demokratieverlust jede Bürgerin und jeden Bürger trifft.“

Demokratiedefizit auch in EU-Verfassungsentwurf

Dass die EU ein Demokratiedefizit aufweist, ist auch ihr selber nicht unbewusst. Bei der Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes für die Europäische Union war es denn eines der grossen Ziele, die Union bürgernäher und demokratischer zu machen. Mit bescheidenem Erfolg. Zwar ist es sicher ein Fortschritt, wenn zum ersten Mal in 50 Jahren ein EU-Gipfel nicht nur von Diplomaten hinter verschlossenen Türen vorbereitet wird, sondern von demokratisch legitimierten Politikern. Dass der EU-Konvent aber wenig von direkter Demokratie hält, zeigt sich bereits darin, dass vor allem die Staaten und nicht das Volk im Vordergrund stehen. „Aus dieser Sicht ist erklärbar, – so die NZZ – „dass deutsche Studenten nicht viel über den Konvent wissen, denn zu einer EU-Verfassung werden sie so wenig zu sagen haben wie damals zum Maastricht-Vertrag, der den DM-Euro-Übergang brachte“. Immerhin wurde im Entwurf aber die Möglichkeit des Bürgerbegehrens aufgenommen. Hierzu müssen eine Million Unterschriften gesammelt werden. Anders als bei unseren Volksinitiativen muss die EU-Legislative aber auf solche Begehren nicht eintreten. Das Bürgerbegehren ist aber insofern ein Fortschritt, als frühere Forderungen nach einem Initiativrecht der Bürger – beispielsweise jene des österreichischen Aussenministers Wolfgang Schüssels und seines italienischen Amtskollegen Lamberto Dini im Jahre 1996 – im EU-Ministerrat jeweils scheiterten. Im Herbst werden die Regierungen der beteiligten Länder über den Vertragsentwurf entscheiden. Gemäss EU-Recht haben sie und nicht das Volk das letzte Wort.

Kleine Länder haben nichts zu sagen

Immer wieder wird angeführt, dass Kleinstaaten in der EU überaus viel zu sagen hätten, weil die Stimme eines Kleinstaates faktisch mehr wert sei, als jene eines grossen Landes. Doch mit der bevorstehenden EU-Osterweiterung werden bisherige Einstimmigkeitsentscheide nach und nach durch Mehrheitsentscheide abgelöst. Dies stärkt die Übermacht der grossen Staaten noch mehr, und schwächt die kleinen Länder. Gemäss einem Bericht des „Spiegels“ gibt es offensichtlich auch deutliche Anzeichen dafür, dass bei der Verteilung von Spitzenpositionen in der EU oder in der Kommission vor allem grosse Länder zum Zuge kommen. Der finnische Aussenminister Erkki Tuomioja beklagt sich im Bericht darüber, dass etwa im Bereich der Sicherheitspolitik alle wichtigen Posten für die grossen Länder oder die wichtigen Nato-Staaten reserviert seien. Auch dies muss dem Demokratieverständnis eines Schweizers widersprechen.

Die Europäische Union betreibt nach wie vor ein zentralistisches, undemokratisches Gebilde, welches unserem Schweizerischen System der direkten Demokratie diametral entgegen läuft. Reformvorschläge zur Überwindung der Demokratiedefizite sind auch im Verfassungsentwurf der EU kein Thema. Darum bleibt ein Entscheid über einen allfälligen Beitritt zur EU auch in Zukunft eine Frage von direkter Demokratie oder bürgerfeindlicher Politik.

 
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