SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher erklärt, warum sie Geschäfte und Restaurants viel früher öffnen will als der Bundesrat – und warum man in der Corona-Krise gewisse Todesfälle in Kauf nehmen müsse.
Magdalena Martullo-Blocher hat sich in den letzten Tagen mit provokativen Forderungen zur Corona-Krise bemerkbar gemacht. Sie selbst bezeichnet sich als «Corona-Spezialistin». Das sei sie wegen «ihrer Erfahrungen und Kontakten» geworden. Bevor die SVP-Politikerin im Homeoffice zum Telefon greift, um die Fragen der Journalisten zu beantworten, lässt sie sich fotografieren. Martullo-Blocher betont, die Bilder seien auf der Blumenwiese in ihrem Garten entstanden. Sie will ja nicht den Verdacht aufkommen lassen, dass sie trotz Shutdown wandern geht.
Frau Martullo-Blocher, wann waren Sie letztmals beim Coiffeur?
Anfang Februar. Nun musste ich halt zur Coiffeuse Chez Magdalena und mir selber die Haare schneiden. Leider bin ich nicht ausgebildet und nicht besonders geschickt.
Sie haben angekündigt, die Coiffeur-Branche mit 600’000 Schutzmasken zu beliefern. Tun Sie das nur, damit Sie sich wieder die Haare machen lassen können?
Die meisten Leute schätzen einen Coiffeurbesuch. Das hebt die Stimmung. Es geht mir aber um die Existenzsicherung der Branche. Ihre Margen sind klein und die Löhne tief. Viele Coiffeure sind selbstständig und erhalten keine Entschädigung vom Bund. Mit der Kurzarbeit sind die Löhne um 20 Prozent gesunken. Da geht es schnell ums Überleben, geschäftlich und privat.
Was machen Sie dagegen?
Die Coiffeure sind ja nahe am Kunden, brauchen besondere Schutzmassnahmen. Vor 10 Tagen nahm ich mit meinem persönlichen Coiffeur Kontakt auf, und wir initiierten ein Schutzkonzept, das nun dem Bundesrat eingereicht wurde. Es sieht vor, dass nur die Hälfte der Coiffeurstühle besetzt sein soll und mit Masken, Handschuhen und Einweg-Umhängen gearbeitet wird. Da Masken in der Schweiz nach wie vor knapp sind, organisiere ich sie zu Selbstkosten.
Mit dieser PR-Aktion wollen Sie doch nur den Bundesrat unter Druck setzen, damit er beim Exit auf Schutzmasken setzt und das Regime schneller lockert.
Halt, das ist keine PR-Aktion. Wir verbessern die Situation konkret.
Es ist nicht bewiesen, dass Masken vollständig vor einer Ansteckung schützen. Warum propagieren Sie sie trotzdem als Allerheilmittel?
In meiner Firma habe ich zuerst konsequentes Abstandhalten und die Hygieneregeln eingeführt. Auch die Coiffeure haben das in ihrem Konzept. Masken werden in vielen Branchen getragen und sind auf Tröpfchenübertragung spezifiziert und getestet. 1,4 Milliarden Chinesen haben die Anwendung auch geschafft. Im Epidemiegesetz sah Bundesrat Alain Berset Masken zum Schutz
der Bevölkerung vor. Der Pflichtbestand wurde jedoch nie aufgebaut. Bis heute beschafft der Bund keine Masken für die Wirtschaft oder die Bevölkerung. Weil es kaum noch Cargo-Flüge gibt, müsste der Bund sie in die Schweiz fliegen.
Sie traten als eine der Ersten in der Öffentlichkeit mit einer Maske auf, bereits während der Session im März.
Damals rief der Bund bereits die Bevölkerung zum Abstandhalten auf. Ich wurde wegen der Maske rausgeworfen. Das sorgte weltweit für Aufregung, ein Youtube-Film mit dieser Szene wurde über 180 Millionen Mal angeklickt. Inzwischen räumt Bundesrat Alain Berset ein, Maskentragen sei nicht verboten, in vielen europäischen Ländern sind sie Pflicht.
Obwohl Sie früh vor dem Virus warnten, verlangen Sie jetzt rasche Lockerungen der Massnahmen. Ist das nicht ein Widerspruch?
Die SVP forderte Anfang Februar Grenzkontrollen, damit nur gesunde Menschen einreisen sollten. Wegen der Personenfreizügigkeit und der anstehenden Begrenzungsinitiative schmetterte man das ab. Auf dem Landweg kam es zu Ansteckungen. Bezeichnenderweise sind die Grenzgänger-Kantone Tessin, Genf, Waadt, Wallis und Basel am meisten von Corona betroffen. Als ich eine Maske trug und Thomas Aeschi die Session unterbrechen wollte, wurden wir von den anderen Parteien ausgelacht.
Und jetzt?
Jetzt, wo die Ansteckungen und die Todeszahlen sinken und das Gesundheitswesen die Situation meistern kann, müssen wir wieder in die Normalität zurückkehren. Pro Monat verlieren wir 15 Milliarden an Bruttosozialprodukt. Der Staat kann die Wirtschaft nicht ersetzen. Lohneinbussen, Arbeitslosigkeit, Konkurse und soziale Konflikte sind die Folgen.
Sie stellen mit Ihren Forderungen nach einem Express-Exit die wirtschaftlichen Interessen über die Gesundheit. Ist das nicht populistisch?
Beides ist wichtig. Unser Gesundheitssystem kann die Lage jetzt meistern, nun müssen wir wieder in die Normalität zurückkehren. Der grosse wirtschaftliche Schaden darf nicht noch grösser werden. Gleichzeitig leben wir weiter mit Abstand, Hygienemassnahmen und dem Schutz der Risikogruppen.
Finden Sie, dass die Gesellschaft eine gewisse Anzahl Tote in Kauf nehmen muss, damit es der Wirtschaft besser geht?
Jeder Todesfall ist tragisch, man kann ihn aber nicht hundertprozentig vermeiden. Wir haben uns während der letzten drei Wochen alle sehr stark eingeschränkt. Die Ansteckungen und Toten gehen nun zurück. Die Intensivstationen wurden massiv ausgebaut und haben viel Platz. Die Risikogruppen, die besonders gefährdet sind, schützen wir weiter konsequent. Die anderen müssen wieder arbeiten und sich bewegen können.
Das ist leicht gesagt.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft geht von 50 Prozent der Arbeitnehmer in Kurzarbeit und einem etwaigen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 7 Prozent aus. So eine Krise hatten wir noch nie. Schon jetzt entsprechen die Unterstützungsmassnahmen des Bundes den Ersparnissen von 25 Jahren. Unsere Kinder werden für diese Corona-Schäden noch bezahlen. Die Wirtschaftsbranchen müssen Konzepte haben, wie sie mit Schutz funktionieren. Das gilt übrigens auch für die Bundesbetriebe. Es geht nicht an, dass die SBB jammern und Geld wollen. Gerade sie haben in der Corona-Krise nie Massnahmen vorgelegt, wie man die Ansteckung im ÖV verhindern könnte. Besonders im ÖV wären Masken sinnvoll.
Aber wo ist für Sie die Schmerzgrenze?
Das Gesundheitssystem darf nicht kollabieren. Das ist bei uns, im Unterschied zu Italien oder Spanien, nicht der Fall. Unter grosser Anstrengung haben wir mehr Intensivstationsplätze und Beatmungsgeräte geschaffen. Da war ich auch noch stark involviert. Inzwischen müssen die Spitäler aber auch wieder hinausgeschobene Operationen ausführen können.
Die Schweiz riskiert aber einen Kollaps des Gesundheitswesens, wenn sie den Shutdown möglichst früh aufhebt.
Nein. Mit dem aktuellen Plan des Bundesrats sind wir definitiv nicht mehr zu früh, sondern zu spät.
Sie blenden aus, dass ein erneutes Ansteigen der Fallzahlen verheerend wäre.
Sogar in einem Extremszenario, wenn wir uns wieder breit anstecken würden, könnte man ja wieder zur Schliessung greifen. Das wäre dann wie jetzt. Wenn es aber funktioniert, vermeiden wir Lohneinbussen, Arbeitslosigkeit und Konkurse.
Könnten Sie es als Regierungsmitglied mit Ihrem Gewissen vereinbaren, wenn wegen Ihrer Entscheide plötzlich Zustände wie in Bergamo oder New York mit Tausenden Toten herrschten?
Das werden wir nicht haben, weil unser Gesundheitssystem viel besser eingerichtet ist und wir die Schutzmassnahmen einhalten. Aber wer übernimmt die Verantwortung für die Arbeitslosen und finanziellen Ausfälle?
Gesundheitsminister Berset wurde bis jetzt von fast allen Seiten ein sehr umsichtiges Handeln attestiert. Warum sind Sie nicht zufrieden?
Er hat als Gesundheitsminister die Situation massiv unterschätzt, keine vorbeugenden Massnahmen getroffen, die vorgeschriebenen Schutzmaterialien nicht gehabt und sie auch nicht schnell eingekauft. Er treibt die Hälfte der Bevölkerung in die Kurzarbeit und nimmt eine enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit in Kauf. Er hat den Staat für die nächste Generation finanziell massiv belastet. Das Schlimmste aber ist: Der Bundesrat beginnt erst jetzt, sich mit den Varianten einer Rückkehr in die Normalität zu beschäftigen. So verlieren wir wertvolle Zeit. Einen Ausstieg muss man bereits beim Einstieg planen.
Diese Entscheide hat nicht Alain Berset gefällt, sondern der Gesamtbundesrat.
Leider haben offenbar selbst die beiden FDP-Bundesräte für eine Verlängerung des Shutdown bis zum 26. April plädiert. Hätten sie zusammen mit den SVP-Bundesräten für eine frühere schrittweise Öffnung gestimmt, hätte das eine Mehrheit im Bundesrat gebracht.
Wann hätten Sie mit den Lockerungen begonnen?
Am 20. April würde ich mit einer gut koordinierten, aber schnellen Öffnung beginnen. Wir kennen nun das Tröpfchensystem, die Abstandsregeln, Plexiglasscheiben und weitere Massnahmen in den Lebensmittelgeschäften. Gartencenter, Blumengeschäfte, Baumärkte, Haushaltsgeschäfte oder Buchläden könnten so auch sofort wieder öffnen. Der Bundesrat ist auf dem Holzweg, wenn er meint, er könne alles zentral öffnen.
Tatsächlich?
Die Situation ist auch regional sehr unterschiedlich. In Graubünden etwa haben wir seit zehn Tagen sinkende Zahlen, auch bei jenen, die beatmet werden müssen. Gleichzeitig haben wir eine hohe Anzahl an freien Intensivstationsplätzen. Wir haben sehr viel freie Natur und überall Platz. Der Schweizer Tourismus muss anlaufen können. Warum nicht die Bergbahnen
fahren lassen, mit nur einer Person pro Sessel, Selbstbedienung im Bergrestaurant und Tischen mit viel Abstand auf der ganzen Alp verteilt? Die Kantone müssen über Öffnungen entscheiden, nicht der Bund. Es reicht, wenn der Bund die allgemeinen Grundregeln vorgibt.
Wenn jeder Kanton selber bestimmt, gibt es ein Chaos wie zu Beginn der Krise bei den Veranstaltungsverboten, die unterschiedlich gehandhabt wurden.
Das ist nicht so tragisch. Die Regionen sind sehr unterschiedlich von Corona betroffen. Das Tessin hat heute schon andere Massnahmen als der Rest der Schweiz. Die Kantone sind viel näher dran und wissen besser Bescheid, was bei ihnen angezeigt ist. Das Gesundheitswesen liegt ja auch bei ihnen. Der Bundesrat muss aufhören, jedem genau sagen zu wollen, was er wie zu tun hat. Das führt zu unsinnigen Regelungen und zu einer starken Verzögerung.
SP-Präsident Christian Levrat wirft Ihnen und der SVP vor, Sie spielten mit solchen Forderungen mit dem Feuer. Die Gesundheit sei wichtiger als die Dividenden der Familie Blocher.
Die Gesundheit ist wichtig, Beschäftigung und Wohlstand aber auch. Die SP forderte ja sogar eine Totalschliessung ohne jegliche Bewegungsfreiheit. Wir von der SVP setzen uns schon immer für die Anliegen der kleinen Leute und das Gewerbe ein. Wir alle werden für den Schaden aufkommen und mehr Abgaben und Steuern bezahlen. Für die Ems-Chemie ist die Öffnung in der Schweiz nicht relevant, wir verkaufen über 95 Prozent ins Ausland. Als Politikerin setze ich mich aber aktiv für Land und Leute ein. So versorge ich das Gesundheitswesen schon seit Wochen mit Schutzmaterialien zu Selbstkosten.
Wie stark leidet die Ems-Gruppe unter der Krise?
Mit Ausnahme von China haben alle Autowerke geschlossen. Als Zulieferer hatten wir einen Umsatzrückgang von 18 Prozent. Der Gewinn wird ebenfalls tiefer ausfallen.
Ist Kurzarbeit bei Ihnen ein Thema?
Im Ausland beziehen wir Ferien oder haben Kurzarbeit angemeldet. In der Schweiz können wir die Schwankungen über ein Gleitzeitmodell lösen. Die Mitarbeiter behalten den vollen Lohn. Wir beziehen keine Unterstützung vom Bund.
Werden Sie eine Dividende ausschütten?
Davon gehe ich aus. Wir verkaufen Spezialitäten und haben starke Marktpositionen. Nach der Krise werden wir wieder wachsen. In China sind wir bereits wieder auf Vorjahresniveau.
Steuern Sie die Ems-Chemie jetzt eigentlich von zu Hause aus?
Ich mache so viel wie möglich aus dem Homeoffice. Für Videokonferenzen gehe ich ab und zu ins Büro. Diese Woche führte ich so Bewerbungsgespräche.
Aber über Ostern machen Sie eine Pause?
Ich bereite mit verschiedenen Branchen die Wirtschaftsöffnung vor. Der Schweizer Tourismus liegt mir am Herzen. Wegen meines politischen und gesamtwirtschaftlichen Engagements habe ich jetzt noch mehr zu tun, und alles ist hektisch. Mit meinen Erfahrungen und Kontakten bin ich eine Corona-Spezialistin geworden.
Wie muss man sich das Familienleben der Martullos während des Lockdown vorstellen?
Mit drei Teenagern ist das nicht immer einfach. Die älteste Tochter hätte jetzt die Maturaprüfungen, nun ist alles offen. Am härtesten ist für alle wohl, dass sie sich nur noch virtuell mit ihren Kollegen treffen können.
Und Ihr Mann?
Auch er hat viele neue Aufgaben übernommen. Er richtet die IT-Systeme ein, besorgt die täglichen Einkäufe und kocht.
Schlägt man sich die Abende bei Martullos eigentlich mit Monopoly um die Ohren?
Nein, nein, die Teenager chatten lieber mit ihren Kolleginnen und Kollegen.
In vielen Familien führt das enge Aufeinanderleben zu Streit. Bei Ihnen auch?
Am Anfang gab es Auseinandersetzungen über den Tagesablauf. Wer hat wann Lektionen, wer kommt zum Essen und solche Dinge. Mittlerweile hat sich das besser eingespielt.
Und ein Osterbesuch bei Ihren Eltern, liegt das drin?
Nein, meine Eltern sind total isoliert. Sie gehören zur Risikogruppe, mein Vater wird dieses Jahr 80 Jahre alt. Wir telefonieren. Zu Ostern habe ich einen Blumenstrauss vor die Tür gelegt.
Das Interview erschien am 12. April 2020 in der SonntagsZeitung