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Würdigung von Oberwalliser Persönlichkeiten und ihre Bedeutung für die heutige Schweiz

Vortrag, gehalten anlässlich der «Bächtelistag»-Neujahrsveranstaltung am 2. Januar 2023, 11.00 Uhr, Simplonhalle, Brig

Christoph Blocher
Christoph Blocher
a. Bundesrat Herrliberg (ZH)

Es gilt das schriftliche und das mündliche Wort. Der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.

Matthäus Schiner (um 1465–1522)
Kardinal und Diplomat

Kaspar von Stockalper (1609–1691)
König des Simplon

Raphael Ritz (1829–1894)
Maler des Wallis

Herr Partei- und OK-Präsident, Nationalrat Michael Graber
Liebe Oberwalliserinnen und Oberwalliser
Chères Valaisannes, chers Valaisans
Getreue, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der übrigen Eidgenossenschaft,
Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Frauen und Männer!

Es ist zur Tradition geworden, dass wir zum Jahresanfang historische Schweizer Persönlichkeiten würdigen.
Natürlich ehrt es mich, hier als «Üsserschwiizer» zu Ihnen sprechen zu dürfen.

Noch lebende Walliser, die für die Nachwelt vielleicht auch als bedeutend angesehen werden – ich denke an Sepp Blatter, Pascal Couchepin, Peter Bodenmann oder Oskar Freysinger – kommen nicht in Frage. Ganz einfach, weil sie noch leben.

Bild 2: Blick auf Martigny, Unterwallis

D’abord un coup d’oeil sur le Bas-Valais: Vous voyez Martigny.

Chers compatriotes du Bas-Valais, je suis heureux que vous soyez venus aujourd’hui. Je vous demande de comprendre qu’aujourd’hui je parle Suisse allemand – ça veut dire la langue du Haute-Valais. Mais j’ai ici la traduction de mon discours pour vous.

Bild 3: Schiner, Stockalper, Ritz

Wir würdigen heute drei Oberwalliser Persönlichkeiten – wohlwissend, dass es auch noch andere gäbe.

Es sind:

  • Aus dem 15. und 16. Jahrhundert Kardinal und Diplomat Matthäus Schiner (um 1465–1522) aus Ernen, ein Kirchenfürst, Fast-Papst und Machtmensch der Renaissance.
  • Aus dem 17. Jahrhundert springt uns der Unternehmer und Politiker Kaspar von Stockalper (1609–1691), König des Simplon und Erbauer eines herrlichen Palasts in Brig, in die Augen.
  • Und schliesslich wollen wir aus dem 19. Jahrhundert Raphael Ritz (1829–1894) aus Sitten würdigen. Er war ein romantischer Maler der Menschen und der Landschaft des Wallis und Zeitgenosse meines Lieblingsmalers Albert Anker.

Bild 4: Ulrichen im Obergoms

Die Reize der Walliser Landschaft – hier das wundervolle Ulrichen im Obergoms – muss ich Ihnen nicht schildern. Wie viele andere «Üsserschwiizer» habe ich bei Familienferien die Oberwalliser Täler und Berge mit unseren schulpflichtigen Kindern durchwandert und später bei Hochgebirgstouren als Anfänger meinen ersten Viertausender bestiegen. Es war das Weissmies. Mein Bergführer war Art Furrer von der Riederalp. Es war dann in Folge nicht mein letzter Viertausender.

Aber die Landschaft ist wichtig, denn schliesslich prägt die Landschaft den Menschen. Weder Matthäus Schiner noch Kaspar von Stockalper wären ohne die 2008 als «Alpenstadt» ausgezeichnete Stadt Brig denkbar. Und was wäre Raphael Ritz ohne das Wallis?

Bild 5: Brig, 1811

Aber Brig – im 15., 16., 17. und auf diesem Bild anfangs des 19. Jahrhunderts – war schon zu Schiners und Stockalpers Zeiten wichtig als Ausgangspunkt des Simplonpasses. Ein Pass, der nicht nur ihr Lebens- und Wirkungsort bedeutete, sondern für das Wallis von grösster Bedeutung war und ist.

Bild 6: Zermatt

Nachdem ich einst zwei Wochen mit der Familie in Zermatt verbracht habe, könnte ich das Oberwallis nicht würdigen ohne Zermatt und das Matterhorn zu erwähnen. Das Matterhorn ist zusammen mit dem Mount Everest vielleicht der bekannteste Berg der Welt. Er ist auch ein Beispiel, das zeigt, was die Walliser im Tourismus aus ihrer kargen, einstmals ärmlichen Landschaft gemacht haben. Überaus eindrücklich!

Bild 7: Lonza, Visp

Aber nicht nur der Tourismus und das geschichtliche Leben blühen im Wallis. Nicht nur der Weinbau darf sich sehen lassen, sondern seit dem 20. Jahrhundert auch eine imposante industrielle Entwicklung. Hier sehen Sie die Lonza in Visp, die sich geradezu stürmisch entwickelt.

Als ich unlängst einem deutschen Arzneimittelhersteller die Frage stellte, ob denn die Lonza mit den Impfstoffen gegen Covid industriell nicht auch ein gewisses Klumpenrisiko für das Wallis darstelle, gab mir dieser abschätzig zur Antwort: «Ach, keine Bedenken, man findet bestimmt einen weiteren Grund, warum wir uns auch in Zukunft impfen lassen sollen!»

Aber drehen wir zunächst die Uhr um über 500 Jahre zurück, im Wissen, dass jede Zeit auf ihrer Geschichte fusst. Das gilt auch für die Zeit von Matthäus Schiner (um 1465–1522), Diplomat und schlussendlich Kardinal und päpstlicher Kriegsminister.

II. Matthäus Schiner (um 1465–1522), Kardinal und Diplomat

Bild 8: Kardinal Matthäus Schiner

II. 1 Herkunft aus Ernen

Über Matthäus Schiner wissen wir relativ wenig, nicht einmal, wie er ausgesehen hat. Alle erhaltenen Bilder sind erst nach seinem Tod entstanden. Auch das genaue Geburtsdatum ist unbekannt. Es dürfte um ca. 1465 gewesen sein. Es wird erzählt, er sei asketisch, fanatisch und erbitterter Feind der Franzosen gewesen.

Bild 9: Geburtshaus in Mühlebach bei Ernen

Mit Sicherheit wissen wir aber, dass er ein bedeutender Walliser war. Fest steht: In diesem einfachen Holzhaus in Mühlebach bei Ernen ist er – der spätere Kirchenfürst und Beinahe-Papst Matthäus Schiner – um 1465 geboren.
Er stammt aus einer einfachen Bauern- und Zimmermann-Familie, jedenfalls nicht aus einem vornehmen, aristokratischen oder gar adligen Geschlecht. Schiner musste früh zupacken, viel arbeiten, Geissen hüten und Holz hacken. Die typische Laufbahn der Bergbevölkerung. Es zählt nur die Tüchtigkeit, die Bodenständigkeit und Beharrlichkeit.
Schiner konzentrierte sich Schritt für Schritt immer auf seinen Ort, wo er gerade stand, peilte das nächste grössere Ziel an und verfolgte es mit enormer Energie, die an die vorwärtsdrängende Kraft der Rhone – oder wie die Oberwalliser sagen – der Rotten erinnert.

So erklomm er in schwindelerregender Karriere Stufe für Stufe, widmete sich zuerst unerbittlich seinem Dörfchen Mühlebach, dann dem Dorf Ernen als Priester, dann dem Wallis als Fürstbischof, verbündete die Eidgenossen mit dem Papst, wurde Kardinal und damit päpstlicher Kriegsminister und gestaltete europäische Politik.

Bild 10: Karte Wallis

Schiner sprach vorzüglich mehrere Sprachen, geriet mitten in die Walliser Politik, was damals selbstverständlich auch europäische Politik hiess. Denn das Wallis bil-dete als Korridor die wichtigste Verbindung zwischen Norditalien und Westeuropa – mit Zugang zu den Pässen Simplon und Grossem St. Bernhard.

Sowohl der französische König wie der habsburgische Kaiser umgarnten das Wallis. Auch dies wieder eine typische Schweizer Geschichte – die Parallele zu den Urkantonen mit dem Übergang des Gotthardpasses.

Bild 11: Sitten

Das Wallis war damals ein Fürstbistum, aber mit sieben mächtigen, recht eigenständen und selbstbewussten Gemeinden – den sogenannten Zenden. Der Bischof residierte als «Landesherr» in der Kathedrale von Sitten. Das obere Wallis war ein zugewandter Ort der Eidgenossen und das untere Rhonetal war seit dem 15. Jahrhundert Untertanengebiet des Oberwallis.

II.2 Anführer der Eidgenossen

Bild 12: Der junge Schiner

Hier der junge Schiner, der ernsthafte, ehrgeizige, geschickte Stratege und vorzügliche Redner. Schiner wusste stets die Gunst der Stunde zu nutzen, zunächst in der Kirchenhierarchie, bis er 1499 zum Fürstbischof von Sitten geweiht wurde. Damit war er geistlicher wie weltlicher Anführer der Walliser. Er geriet in die Oberwalliser Querelen zwischen Frankreich-Freunden, angeführt von seinem ehemaligen Förderer Supersaxo und Frankreich-Gegnern. Schiner hasste die Franzosen, die sich die Lombardei einverleibt hatten. Darum kämpfte er für einen Zusammenschluss von Mailand, dem habsburgischen Kaiser und dem Papst.

Bild 13: Rom, um 1500

Das Wallis trotzte 1510 der Tagsatzung einen Vertrag mit Papst Julius II. ab, der diesem Papst die Mobilisierung von jährlich 6000 Kriegern aus der Eidgenossenschaft erlaubte. Als Dank dafür wurde Schiner in Rom zum Kardinal geweiht.

Doch seine frankreichfeindliche Haltung entzweite ihn der Heimat. Schiner musste das Wallis schliesslich verlassen, was ihn erst recht antrieb, eine heilige Liga zwischen Papst, Venedig, Spanien und England gegen Frankreich zu schmieden.

Bild 14: Schiner führt die Eidgenossen

Und so kam es, wie es musste:
1512 vertrieb Schiner mit Hilfe von eidgenössischen Söldnern im Pavierzug die Franzosen aus der Lombardei. Das war sein grösster Erfolg als Feldherr. Doch es war ein Sieg der eidgenössischen Söldner, womit die Eidgenossen Herren der Lombardei wurden. Allerdings dauerte diese eidgenössische Grossmachtstellung nicht lange.
Schon 1515 erlitten die Eidgenossen – und damit auch Matthäus Schiner als Oberbefehlshaber über das päpstliche Heer – in der Schlacht bei Marignano eine schmerzliche Niederlage. Doch diese wurde schlussendlich zum Wohl der Schweiz und ihrer Neutralitätsgeschichte.

Trotz dieser Niederlage konnten die Eidgenossen das Tessin dank Schiner behalten. Allerdings schwächte die Niederlage Schiners Stellung in Rom wie im Wallis.

Bild 15: Huldrych Zwingli

So musste Schiner 1517 wegen dem Innerwalliser Konflikt das Wallis für immer verlassen. Er floh zunächst nach Zürich, wo er mit dem Reformator Huldrych Zwingli sehr gut auskam, vielleicht, weil auch dieser mit einer ähnlich gloriosen Laufbahn als Bergbauernbub im Toggenburg aufgewachsen war. Doch weil Zwingli ein Reformator war, konnte er nicht Kardinal werden.

II.3 Europäischer Politiker

Bild 16: Kaiser Karl V.

Nie verlor der kämpferische Matthäus Schiner aber das Ziel aus den Augen, die Eidgenossen dem Papst zuzuführen und Italien unter dessen Führung zu einigen und von Frankreich zu befreien. 1519 unterstützte er erfolgreich die Wahl von Karl V. von Habsburg als römisch-deutschem Kaiser. Und eroberte 1521 mit eidgenössischer Unterstützung Mailand zurück.

Bild 17: Kardinal Schiner

Matthäus Schiners Kandidatur zum Papst scheiterte 1522 trotz der Unterstützung von Kaiser Karl V. ganz knapp wegen zwei fehlenden Stimmen, weil die französischen Kardinäle heftigen Widerstand leisteten.

Er stand danach loyal zum neuen Papst Hadrian von Utrecht. Doch schon am 1. Oktober 1522 starb Schiner in Rom an der Pest, andere sagen, an der Syphilis.

Bild 18: Denkmal in Ernen

Heute erinnert ein Denkmal in Ernen an diesen grössten Sohn des Wallis. 2022 hat sich sein Todesjahr zum 500. Mal gejährt. Wenn er auch Kinder gezeugt hat – das war damals auch für katholische Geistliche nicht aussergewöhnlich –, galt er als fromm, gestreng, aber auch weltklug und überaus zielgerichtet.

Bild 19: Schiner mit den Eidgenossen

Es gilt zusammenzufassen:
Ohne seine Herkunft, ohne seine Doppelstellung als Bischof und Landesfürst und ohne die geografische Lage des Wallis an der Grenze zu Italien und an so wichtigen Alpenübergängen wäre Schiner niemals zum Staatsmann von europäischer Bedeutung aufgestiegen. An diesen Kardinal mit unbezähmbarer Energie aus kriegerischer Zeit erinnert ein Wandbild im Esssaal der Schweizer Garde im Vatikan. Es geht sicher nicht zuletzt auf die Ausnahmegestalt Schiners zurück, dass die Walliser seit Gründung der Garde 1506 fast immer den Hauptharst der Gardisten gestellt haben.

Aber vielleicht wäre das Unterwallis immer noch ein Teil Frankreichs, das Tessin gehörte vielleicht ohne Schiner auch nicht zur Schweiz, und das Wallis und die Schweiz hätten ohne Schiner vielleicht eine ganz andere Wendung genommen, ja vielleicht sogar das südliche Europa. Wie hätte ohne Schiner Marignano geendet? Und damit die Grossmachtpolitik und die erfolgreiche Neutralitätsgeschichte der Schweiz?

III. Kaspar von Stockalper (1609–1691), König des Simplon

III.1 Macht und Prunk

Bild 20: Stockalperturm, Gondo

Wer von Italien her über den Simplonpass ins Wallis reist, begegnet im Grenzdorf Gondo diesem mächtigen, 350 Jahre alten Turm.

Bild 21: Altes Spittel, Simplon

Wir fahren weiter von Gondo hinauf. Auf der Passhöhe des Simplons erblicken wir mitten auf der Hochebene mit Verwunderung einen anderen markanten Granitbau, nämlich dieses Alte Spittel mit dem barocken Glockenturm.

Bild 22: Stockalperpalast, Brig

Weiter geht die Fahrt auf der sich schlängelnde Passstrasse hinunter, wo sich uns bald das weite Rhonetal öffnet. Es fällt uns als erstes in Brig ein herrlicher Bau mit drei Türmen ins Auge, auf denen je eine glänzende Zwiebelhaube sitzt. Auch dieser Palast ist nach seinem Bauherrn Stockalper benannt.

Alle drei imposanten Bauwerke, der Turm in Gondo, der Spittel auf der Simplonpasshöhe und der prächtige Bau in Brig haben etwas gemeinsam, sie haben den gleichen Erbauer. Aber nicht, dass dies ein berühmter Architekt gewesen wäre. Nein, aber ein begüterter Bauherr aus dem Wallis. Nämlich Kaspar von Stockalper (1609 – 1691). Das wichtigste Baudenkmal, der Palast in Brig, heisst darum auch Stockalper-Palast.

Wie muss diese Demonstration von Macht und Reichtum eines Einzelnen im 17. Jahrhundert die Reisenden beeindruckt haben!

Bild 23: Kaspar von Stockalper

Der Erbauer hat viele Bezeichnungen bekommen. So spricht man vom Baron Kaspar von Stockalper zum Thurm, vom König des Simplonpasses, politischer und wirtschaftlicher Beherrscher des Wallis, Salz-, Söldner- und Immobilienunternehmer, Mäzen und frommer Katholik, oder – wie mir ein Walliser Politiker sagte: Er war ein Gauner.

Wie Matthäus Schiner ist auch Kaspar von Stockalper ohne die besondere Lage des Oberwallis, ohne die Alpenstadt Brig und schon gar nicht ohne Simplonpass denkbar. Dies, obwohl er ein anderes Herkunftsmilieu hatte als der Bauernbub Matthäus Schiner.

Aber beide – Schiner und Stockalper – verkehrten mit Kaisern, Königen und Päpsten. Schon zu Lebzeiten wurde der «grosse Stockalper» als Wohltäter gefeiert, aber wegen seiner Selbstsucht, Gier und Rücksichtslosigkeit auch angefeindet. Sein Aufstieg war ebenso atemberaubend wie sein jäher Sturz. Auch hier wieder Ähnlichkeiten zum 150 Jahre früher lebenden Matthäus Schiner.

III.2 Aufstieg

Bild 24: Altes Stockalperhaus

Im Gegensatz zu Kardinal Schiner wurde Stockalper in eine begüterte und einflussreiche Familie geboren. Schon sein Urgrossvater Peter hat in Brig dieses fünfstöckige Familienhaus gebaut und regierte als Landeshauptmann das weltliche Wallis. Hier wurde Kaspar 1609 geboren. Für eine solch einflussreiche Familie war klar, dass er studieren sollte. Sechs Jahre besuchte er das Jesuitenkollegium Sitten.

Bild 25: Jesuitenkollegium Freiburg im Breisgau

Dann weilte der junge Stockalper 1627/28 an der Jesuiten-Universität in Freiburg in Breisgau, lernte mehrere Sprachen und das juristische Handwerk. Dann war er im Wallis als öffentlicher Notar tätig, obwohl er keinen eigentlichen Abschluss gemacht hat. Zeitlebens hing er den Jesuiten, dem Papsttum und der katholischen Kirche an und blieb fortan ein grosser Wohltäter, wobei er diese Wohltaten stets mit grossem Geschick mit seinen Geschäften verband.

Bild 26: Politisches Wallis

Das Wallis bestand im Osten aus den sieben Zenden (so etwas wie grosse Gemeinden) mit grosser Selbständigkeit und den Untertanengebieten im Westen – also dem Unterwallis –, welche die Oberwalliser als gemeine Herrschaft mit zwei Landvögten in Saint-Maurice und Monthey verwalteten. Das Sagen hatten vermögende Patrizierfamilien. Das Wallis war zugewandter Ort der Eidgenossenschaft. Man brauchte aber auch gute Beziehungen zu Frankreich, Savoyen und dem spanischhabsburgisch beherrschten Mailand.

Bild 27: Säumerweg Simplon

Rasch erkannte Kaspar von Stockalper die Bedeutung des Simplon als Handelsroute von Nord- und Westeuropa Richtung Genua, Mailand oder Venedig. Im damals tobenden Dreissigjährigen Krieg (1618 – 1648) waren nämlich die Bündner Pässe stark betroffen und nur eingeschränkt nutzbar. Er studierte das europäische Transitgeschäft und bekam bald die Route Brig-Simplon-Domodossola unter Kontrolle. Man kann übrigens seine Saumtransporte auch heute noch auf dem «Stockalperweg» nacherleben, wie dieses Bild zeigt.

Sie sehen, die Landschaft prägt die Menschen. Die Bündner sind durch die Bündner Pässe geprägt, die Innerschweizer durch den Gotthard, die Walliser durch den Simplon und den Grossen St. Bernhard.

Bild 28: Comtesse de Bourbon

Der Simplon bot dem 25-jährigen Stockalper einen prestigeträchtigen Auftrag. Stockalper bekam die Chance, die Prinzessin Marie-Marguerite, Comtesse de Bourbon Condé, Gattin des Prinzen von Savoyen und eine Verwandte des französischen Königs, mit grossem Gefolge und 150 Pferden von Brig aus über den winterlichen Simplon zu führen. Das Unternehmen gelang und mehrte Stockalpers Ruhm an den Fürstenhöfen.

Bild 29: Wappen de Riedmatten

Nachdem ihm eine erste Frau früh verstorben war, heiratete Kaspar von Stockalper Cäcilia von Riedmatten. Sie stammt – wie das Familienwappen zeigt – ebenfalls aus einem angesehenen Geschlecht, das sechs Bischöfe hervorgebracht hat. Cäcilia schenkte ihm 13 Kinder, wobei neun noch als Kinder starben. Sie scheint ebenfalls sehr geschäftstüchtig gewesen zu sein, war ihrem Mann eine wichtige Stütze und führte bei seinen häufigen Abwesenheiten das gesamte Unternehmen.

III.3 Staatsmann und Grossunternehmer

Bild 30: Tagsatzung von Baden

Stockalper war als Besitzer des Eisenbergwerks in Gantergrund ein Industrieller.
Schliesslich erhielt Stockalper das gesamte Transitmonopol. Er erreichte als Walliser Abgeordneter an der Tagsatzung in Baden, dass «die Pässe wohlverschlossen zu halten seien», aber jedem Ort, der angegriffen werde, «mit Leib und Gut und ganzem Vermögen bei[zu]springen, wie Solches redlichen Eidgenossen gebührt».

Die Schweiz hielt sich geschickt aus den kriegerischen Ereignissen heraus, stellte aber Söldnertruppen. So wie Matthäus Schiner sich Lorbeeren holte, indem er diese dem Papst zuhielt, so glänzte Stockalper mit der gleichen Materie – dem Söldnergeschäft –, wobei die Schweizer Söldner ihr Leben hauptsächlich in französischen Diensten liessen.

Bild 31: Salzsäcke

Kaspar von Stockalper erhielt schliesslich das Walliser Salzhandelsmonopol, eine gewaltige Quelle von noch mehr Reichtum und Einfluss. Der Import von Salz war für die Herstellung von Käse oder Trockenfleisch äusserst wichtig – für die Ernährung im Wallis gewissermassen systemrelevant.

Bild 32: Schiffbarer Kanal

Dass Stockalper grosse Visionen hatte, zeigte sich darin, dass er eine künstliche Wasserstrasse vom Genfersee bis ins mittlere Wallis bauen und den Höhenunter-schied mit etwa achtzig Schleusen überwinden wollte. Die wilde Rhone war für Transporte ungeeignet. Er vollendete das Werk nie, legte aber immerhin in der Chablais-Ebene im Unterwallis für den Salzhandel einen schiffbaren Kanal an, der heute noch seinen Namen trägt.

Bild 33: Papst Urban VIII. und Kaiser Ferdinand III.

Mit dem Wallis und der «Üsserschwiiz» begnügte er sich längst nicht mehr. Die Gunst der höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträger trieb ihn voran. Sie sehen, Walliser Persönlichkeiten – so Stockalpler und Matthäus Schiner – machten es nie unter Päpsten, Kaisern und Königen!

So ernannte Papst Urban VIII. Stockalper zum «päpstlichen Ritter zum Goldenen Sporn», sein Schwager war mittlerweile Bischof geworden. Und Kaiser Ferdinand III. erhob ihn in den erblichen Reichsadelsstand mit dem Titel «Kaspar Stockalper vom Thurm». Gleichzeitig übrigens mit dem Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein, dem die Schweiz durch seine hervorragenden Dienste 1647/48 im Westfälischen Frieden die volle Unabhängigkeit und Loslösung vom Römisch-Deutschen Reich verdankt.

Bild 34: Walliser Weinberg

Viel Skrupellosigkeit zeigte Stockalper in seinen vielen Ausleihungen, mit denen er sich als grosszügiger Gläubiger darstellte. Er lieh Geld und dominierte im Wallis den Finanzmarkt, hatte es aber auf Grund und Boden abgesehen. Er machte viele Bauern zu Schuldnern, bis sie ihn vor lauter Überschuldung nicht mehr bezahlen konnten, worauf er schliesslich ihre Alpweiden, Wiesen, Äcker und Rebberge übernahm – und das weit über das Wallis hinaus. «Nichts ist beständig ausser Grund und Boden», so lautet sein Wahlspruch, der sich hinter seinem Mäzenatentum versteckte.

III.4 Bauherr und Stifter

Bild 35: Jesuitenkollegium Brig

Doch der kirchliche Mäzen blieb er.
Grosszügig bot er Grund und Boden in Brig den Jesuiten zum Bau eines Kollegiums an. Und den Kapuzinern baute er ein Kloster.
Dank Stockalper konnte die Kirche Glis erneuert und erweitert werden.
Er stiftete das Ursulinenkloster, das Antonius-Spittel und vieles mehr.

Immer mischten sich seine frommen Absichten mit wirtschaftlichem Gewinnstreben.

Bild 36: Stockalperschloss

Stockalper war vierzig Jahre alt, als er mit dem gigantischen Bau des Briger Schlosses seine Macht aller Welt demonstrieren sollte. Erst nach 17 Jahren war der Rohbau fertiggestellt. Vier Stockwerke und ein Dachgeschoss sollte das Hauptgebäude schliesslich aufweisen, wobei die Räume je höher gelegen, desto prächtiger sind. Bewohnt und benutzt hat er sie allerdings nie!

Bild 37: Arkadenhof

Von wunderbarer Schönheit und Eleganz zeigt sich der drei- und zweistöckige Arkadenhof, der nur der Prachtentfaltung dient. Die den drei biblischen Weisen aus dem Morgenland gewidmeten Türme überragen dieses grösste weltliche Bauwerk des Barocks im gesamten Alpenraum.

Bild 38: Kaspar von Stockalper

In den 1660er Jahren befand sich Kaspar von Stockalper auf dem Höhepunkt seiner Macht. 1663 weilte er mit einer eidgenössischen Delegation zur Unterzeichnung eines Soldvertrags beim französischen König Louis XIV. Als Landeshauptmann bestimmte er die Geschicke des Wallis. Sein Mischkonzern umfasste über tausend Mann. Als Politiker, Unternehmer, Stifter, Bauherr und Grossgrundbesitzer kam er zu unermesslichem Reichtum.

Bild 39: Domodossola

Doch irgendwann wurde Stockalper seiner Umgebung zu gross. Die Vertreter der vier Zenden Visp, Leuk, Siders und Sitten lehnten sich gegen seine Machtfülle auf. Sie warfen ihm zahlreiche Vergehen und Verbrechen vor.

Wie der Aufstieg folgte der Absturz. Stockalper verlor alle Ämter, beträchtliche Teile seines Vermögens wurden konfisziert. Er floh nach Domodossola, wo er sechs Jahre lang seinen Palast am Marktplatz bewohnte.

Nach halbherziger Entschuldigung durfte er 1685 nach Brig zurückkehren. Nur ein Enkel hat ihn in der männlichen Linie überlebt. Die Stockalper blieben aber begütert und nahmen bald wieder wichtige Funktionen im Wallis wahr. Aber eine Ausnahmefigur vom Schlage eines Kaspar von Stockalpers hat das Geschlecht nie mehr hervorgebracht.

IV. Raphael Ritz (1829–1894): Maler des Wallis

IV.1 Rhein oder Rohne?

Bild 40: César Ritz, Hotel Ritz, Paris

Wenn einer in Zürich den Namen Ritz hört, denkt er wohl an das glamouröse Hotel Ritz in Paris – dieses Bild zeigt es. Die meisten können sich wohl nie eine Unter-kunft darin leisten.

Aber tatsächlich hat dieses Hotel mehr mit dem einfachen romantischen Maler des Wallis zu tun, als es scheint, denn der weltbekannte Hotelier und Hotelgründer Cäsar Ritz – hier auch auf dem Bild – hat dem Pariser Hotel seinen Namen gegeben. Und er stammte aus Bellwald.
Ebenfalls aus Bellwald stammt die Walliser Künstlerfamilie Ritz – und ihr grösster Sohn, Raphael Ritz, war ein entfernter Cousin des Hotelpioniers.

Bild 41: Vater und Mutter Ritz-Kaiser

Raphael Ritz’ Vater war der Bellwalder Lorenz Julius Ritz, seine Mutter aber war eine geborene Kaiser aus Stans im Kanton Nidwalden. Sie starb bereits, als Raphael 13 Jahre alt war. Sowohl Raphaels Vater als auch die beiden Brüder seiner Mutter waren Kirchen- und Heiligenmaler. Obwohl zuerst auch Raphael dazu ausgebildet wurde und seinen Vater auch immer wieder bei Altar-Malereien unterstützt hat, schlug er eine andere Richtung ein.

Bild 42: Düsseldorf, um 1850

Er weilte seit 1854 zur Weiterbildung in Düsseldorf, wo eine hervorragende, international anerkannte Kunstakademie florierte. Im Alter von dreissig Jahren gründete er sein eigenes, erfolgreiches Atelier in Düsseldorf. Das im Unterschied zum gleichzeitig lebenden Berner Künstler Albert Anker, der in Paris – zusammen mit den grossen Impressionisten Monet, Van Gogh und vielen anderen Malern – ausgebildet wurde, sich aber wie Ritz auch um das Volksleben kümmerte – in seinem Fall nicht jenes des Wallis, sondern des Berner Seelandes.

Das Lebensziel von Raphael Ritz war es, das Walliser Volksleben und die Walliser Landschaft des 19. Jahrhunderts malerisch festzuhalten. Die Traditionen von Gestern und die einbrechende Moderne beschäftigten ihn. Ritz malte die Wallfahrt zur heute noch bewohnten fünfhundertjährigen Einsiedelei Longeborgne.

Bild 43: Wallfahrt nach Longeborgne, 1868

Raphael Ritz besass die Distanz durch viele Jahre in der Fremde, aber auch das Interesse, ja die Liebe zum Leben des einfachen, ländlichen Walliser Volkes. Junge Menschen, die das Leben noch vor sich haben, aber auch Ältere im Vordergrund lauschen andächtig den Worten des Predigers. Die Religion ist in seinen Bildern dezent spürbar, aber nie aufdringlich; sie vermittelt ein Gefühl des Aufgehoben-Seins.

Bild 44: Albert Anker: Kinderbegräbnis, 1863

Ganz ähnlich sehen wir es beim bekanntesten Schweizer Genremaler jener Zeit, bei Albert Anker. Anker ist 1831 – also zwei Jahre nach Raphael Ritz – geboren und war ein Berner Seeländer von Ins. Obwohl Anker sogar als Theologe ausgebildet war, hat der Berner Künstler die Religion nur am Rande und nur nebenbei an-klingen lassen. Ein Beispiel dafür ist sein berühmtes Bild «Das Kinderbegräbnis». Der Pfarrer steht unauffällig links abseits im Schatten einer Zypresse. Der zentrale Platz nimmt der hell beleuchtete Kinderchor ein.

Bild 45: Kleine Kavallerie, 1863

Dieses Bild «Kleine Kavallerie» kann nur von Raphael Ritz sein – ganz anders als Albert Anker: Drei Kinder sitzen auf dem Rücken eines Baumstamms, das vorderste schwingt eine Peitsche, das hinterste schwenkt eine Fahne. Anlässlich einer Kunstausstellung in Berlin erwarb dieses Bild kein Geringerer als der preussische König Wilhelm I., der spätere erste deutsche Kaiser. Im kriegerischen Preussen gefiel offenbar eine so frühe militärische Ausbildung.

IV.2 Volksleben

Bild 46: Ingenieure im Gebirge, 1870

Immer wieder kehrte Raphael Ritz aus Düsseldorf ins Wallis zurück und schuf sehr gesuchte Genre-Bilder. Die Komposition «Ingenieure im Gebirge» war so erfolgreich, dass er davon mehrere Varianten malte. Er interessierte sich sehr für die moderne Technik der Landesvermessung, die im Gebirge teilweise unter schwierigsten Verhältnissen vorangetrieben wurde.

Bild 47: Archäologie in der Kirche Valeria, 1870

Das Gemälde «Archäologie in der Kirche Valeria» zeigt humoristisch, wie ein Kenner mit Feldstecher eine mittelalterliche bauliche Verzierung studiert, während eine Frau eher gelangweilt in einer Kirchenbank sitzt und liest. Raphael Ritz hat sich hier wohl selber etwas auf die Schippe genommen, war er doch ein grosser Förderer der Walliser Denkmalpflege und des späteren Geschichtsmuseums.

Bild 48: Die zwei Lebensalter, ca. 1873

Von tiefer Symbolik ist diese Darstellung von 1873 mit dem Titel «Die zwei Lebensalter». Ein froher, hell gemalter Zug von Kindern mit Blumen und kleinen Tännchen begegnet im Wald einer betagten Gestalt, die rechts im Schatten sitzt.

Bild 49: Wohnhaus in Sitten und Ehefrau

Ritz liess sich erst 1875 – also mit 43 Jahren – dauerhaft in Sitten nieder und bezog das uralte Haus, das schon seine Eltern bewohnt hatten. Der Grund für seine Sesshaftigkeit war die Heirat mit Carolina Nördlinger aus Tübingen, mit der er fünf Kinder hatte.

Bild 50: Junger Raphael Ritz

Aufgrund einer in der Jugend überstandenen Typhuserkrankung war die Gesundheit von Raphael Ritz stets etwas schwankend. Dennoch hat er mit grosser Schaffenskraft etwa 500 Gemälde vollendet und seine grosse Familie über Wasser gehalten. Er war ein bescheidener Mann, als Künstler aber durchaus selbstbewusst und in vielen Fragen kompetent.

IV.3 Im Wallis liegt die ganze Welt

Bild 51: Der Botaniker, 1883

Humoristisch und an Carl Spitzweg erinnernd präsentiert sich auch das Bild «Der Botaniker». Der Wissenschaftler oder Liebhaber mit Brille bestimmt mit einem Buch die gesammelten Gebirgspflanzen, während eine Ziege – von ihm unbemerkt – die Blumen aus der Botanisierbüchse frisst. Zwei jugendliche Einheimische schauen dem Treiben belustigt oder erstaunt zu.

Bild 52: Der Gelegenheitsdoktor, 1886

Der «Gelegenheitsdoktor» zeigt in einem Walliser Gasthaus einen mehr oder weniger Heilkundigen beim Verbinden des Beines eines Mädchens. Die Mutter tröstet, das Schwesterchen weint, der Vater schmaucht eine Pfeife. Und im Hintergrund sitzen drei Männer unbeteiligt beim Wein. Wir spüren: Bilder von solcher Meisterschaft wollen nicht einfach eine Szene in einer Walliser Wirtschaft zeigen, sie stehen für eine ganze Welt.

Bild 53: Die Rhonekorrektion bei Raron, 1888

1888 beauftragte der Kanton Wallis Raphael Ritz mit diesem Bild über die Rhonekorrektion bei Raron.

Das Kunstmuseum Wallis verfügt über fast 50 Gemälde und 500 Zeichnungen von Ritz. Gegenwärtig wird dort eine sehr sehenswerte Ausstellung über Ritz gezeigt, die ich Ihnen sehr empfehlen kann.

Bild 54: Älterer Raphael Ritz

Bereits am 1. August 1857 – also mit 28 Jahren – hat Ritz über seine Zukunft geschrieben: «Ich […] würde mich an meiner Heimat versündigen, wenn ich dieselbe nicht zum Gegenstande meiner Studien und Bilder machen würde […]; nur den Alpen und den Alpenvölklein soll ich dann meinen Pinsel weihen.» Das hat er in vorbildlicher Weise getan.

Raphael Ritz war kein Lokalkünstler, sondern strebte mit seinen Walliser Genre-Szenen nach dem Ewiggültigen. Zuweilen scheint er mir durch seine Düsseldorfer Akademie etwas romantischer und idealisierender als der in Paris geschulte Albert Anker. Auch in der Farbgebung waren die in Deutschland ausgebildeten Maler eher zurückhaltender als jene, die in Frankreich studiert hatten.

Bild 55: Matterhorn, 1882

Raphael Ritz hat die Menschen mit grosser Meisterschaft erfasst, war aber in der Darstellung der Landschaften nicht weniger glücklich, wie Ihnen dieser stimmungsvolle Eindruck vom berühmtesten aller Schweizer Berge zeigt. Das Wallis darf stolz sein, dass sich ein Künstler vom Format eines Raphael Ritz aufs Wallis beschränkte, um so die ganze Welt zu gewinnen.

Und nun entbiete ich Ihnen in diesen etwas unruhigen Zeiten meine allerbesten Wünsche für ein glückliches, gesundes und gefreutes neues Jahr.

Christoph Blocher
Christoph Blocher
a. Bundesrat Herrliberg (ZH)
 
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