„Heiri, wenn’s fählt, chönnt’s Di dä Chopf choschtä".[1] Das sagt Vater Gujer zu seinem Sohn Heinrich. Wir sind auf der Mühle in Bauma. Es …
Referat von Bundesrat Ueli Maurer, Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS, anlässlich der Ustertagsfeier vom 18. November 2012.
Es gilt das gesprochene Wort
„Heiri, wenn’s fählt, chönnt’s Di dä Chopf choschtä“.[1] Das sagt Vater Gujer zu seinem Sohn Heinrich. Wir sind auf der Mühle in Bauma. Es ist ein milder Herbstmorgen; es ist der 22. November 1830. Heinrich Gujer verabschiedet sich und macht sich auf den Weg. Er nimmt seinen Pass mit, damit er notfalls fliehen könnte. Später am Tag wird er auf dem Zimiker zu Tausenden von Bürgern sprechen und mit seiner Rede die Volksversammlung von Uster eröffnen.
Freiheit braucht Mut
Es ist ein Glück, dass die Sorge des Vaters historisch überliefert ist. Wir können so hinter die Kulisse der Geschichte blicken. Wir erfahren von der Gemütslage der Menschen von damals, von Angst und Überwindung, vom Mut, den sie brauchten. Daraus lernen wir etwas ganz Wichtiges: Freiheit gibt es nicht einfach so; Mut ist die Voraussetzung für die Freiheit. Denn es brauchte Mut, nach Uster zu kommen; es brauchte Mut, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Mit dem Ustertag feiern wir unsere Freiheit. Wir gedenken dem Mut all jener Bürger, die an jenem denkwürdigen 22. November 1830 für Freiheit eingetreten sind. Und wir erinnern uns daran, dass es Freiheit nur gibt, solange wir Bürger uns für die Freiheit einsetzen.
Der Mut zur Freiheit hat sich damals im Volksaufmarsch in Uster gezeigt. Aber er hat sich nicht darauf beschränkt: Die Bedeutung des Tages wird klar, wenn wir uns den grösseren Zusammenhang ansehen. Der Ustertag markiert den Durchbruch liberaler Grundsätze. Was zuvor in Flugschriften, in Volkseingaben, in Denkschriften diskutiert wurde, wird nach dem Ustertag politisch umgesetzt. Zuerst in der neuen Zürcher Kantonsverfassung von 1831. Dann durch Reformen in anderen Kantonen. Und schliesslich in der Bundesverfassung von 1848.
Mit diesen Verfassungen wird der Boden für die liberale Gesellschaftsordnung gelegt. Für die Gesellschaftsordnung, die aus der Schweiz eines der freiesten, friedlichsten und reichsten Länder gemacht hat – Für die Gesellschaftsordnung, der wir unsere weltweit einzigartige Lebensqualität verdanken.
Freiheitsgrundsätze
Die Grundsätze sind einfach, glasklar und zeitlos: Wir Bürger sind frei. Einer der drei Redner am Tag von Uster, Johannes Jacob Hegetschweiler, Arzt aus Stäfa, zitiert Friedrich Schiller: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd‘ er in Ketten geboren“.[2] Daraus ergibt sich alles weitere: Freie Meinungsäusserung, Versammlungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit, Wirtschaftsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz des Privateigentums, Schutz der Privatsphäre, Schutz vor Willkür, um nur einige zu nennen. Auch die Transparenz in der Staatsführung gehört dazu. Denn der Staat ist uns Bürgern Rechenschaft schuldig, nicht wir dem Staat. Der Ustertag und die liberalen Verfassungen definieren auch da die Verhältnisse neu: Vorher hatte die Regierung ein Land. Seither hat das Land eine Regierung.
Damit kommen wir zum wichtigsten Grundsatz: Wir alle zusammen, wir, das Volk, wir sind der Souverän, also die oberste Macht im Staat. Das Volk erlässt die Verfassung und kann diese auch jederzeit wieder ändern. So steht es als einleitender Grundsatz im Ustertagsmanifest. Und so steht es denn auch im ersten Artikel der Zürcher Kantonsverfassung von 1831.
All diese Grundsätze sichern uns die Freiheit. Der Ustertag ist kein fernes historisches Ereignis: Er ist eine Weichenstellung, die nachwirkt. Der damalige Entscheid für die Freiheit ist die Grundlage des Erfolges von heute. Darum gehört die Ustertagsfeier zu den ganz wichtigen Gedenkanlässen in unserem Land.
Aber es reicht nicht, wenn wir einmal im Jahr feierlich der Freiheit gedenken – und im politischen Alltag diese wichtigen Grundsätze wieder vergessen.
Zum Beispiel, wenn wir von Steuergeschenken sprechen: Das ist ein Rückfall in Zustände von weit vor dem Ustertag. Das ist wieder Feudalstaat: Dem Landesherrn gehört alles. Grund und Boden und die Arbeitskraft seiner Untertanen; was diesen verbleibt ist ein gnädiges Geschenk des Fürsten.
Spätestens seit dem November 1830 sehen wir das anders: Wir sind frei. Was wir erarbeiten, das gehört uns. Es gibt darum keine Steuergeschenke. Denn der Staat kann uns nicht schenken, was uns gehört und nicht ihm.
Steuergeld geht auch nicht verloren, wo es nicht erhoben wird. Steuergeld geht verloren, wo es vom Staat unsinnig ausgegeben wird.
Auf keinen Fall vergessen dürfen wir den wichtigsten Grundsatz: Das Volk ist der Souverän. Nur die Bürger können die Verfassung ändern – Aber die Bürger, sie können sie ändern. Eine Volksabstimmung ist deshalb verbindlich. Auch wenn es um die Ausschaffung krimineller Ausländer geht und das der Verwaltung, den Medien und der politischen Elite missfällt. Ein Abstimmungsresultat ist kein untertäniges Bittschreiben an die gnädigen Herren wie im ancien régime. Es ist ein Entscheid der obersten Instanz des Landes; ein Entscheid der Bürger in ihrer Funktion als höchster Gewalt. Also ein verbindlicher Auftrag, der umzusetzen ist. Auch das sollten wir spätestens seit dem November 1830 wissen!
Sonderfall Freiheit
Der Ustertag ist die Ouvertüre zur Reformzeit, aus der unser moderne Bundesstaat entstanden ist. Und in diesem Zusammenhang wird er auch immer wieder gewürdigt – absolut zu Recht!
Der Ustertag hat aber noch eine andere Bedeutung, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Die Reformen der 1830er und 1840er-Jahre haben auch eine aussenpolitische Dimension.
Die Schweiz wagt Demokratie. Die Schweiz wagt Freiheit. Im Alleingang. Als Sonderfall. Überall sonst in Europa herrschen Monarchen. In Frankreich hat es im Juli 1830 eine Revolution gegeben. Aber es wird nur ein König durch einen neuen König ersetzt.
Die Schweiz geht einen Weg, den sonst kein anderes Land zu gehen wagt. Wir müssen uns vorstellen, was das damals bedeutet hat: Volksrechte statt Gottesgnadentum. In den andern Ländern ist es umgekehrt: Ganz wenige bestimmen. Die grosse Mehrheit muss gehorchen. Das Regieren und Verwalten wird als hochkomplexe Kunst verstanden. Das Volk kann das alles nicht verstehen, es stört nur und soll darum nicht mucken. Fürsten und ihre Minister tagen geheim. Ohne Öffentlichkeit, ohne Kontrolle, ohne demokratische Beteiligung der Untertanen.
Die Kantonsverfassung von 1831 und die Bundesverfassung von 1848 sind unglaublich mutige Schritte. Sie sind der Gegenentwurf zu allem, was in den andern europäischen Staaten selbstverständlich ist. Unser Land weicht ganz bewusst von der internationalen Norm ab, so weit wie es nur denkbar ist. Die Bürger von damals wissen, was ihnen die liberalen Verfassungen einbringen werden: Freiheit – aber eben auch Kritik, Spott, Verachtung, Druck, Erpressungen von aussen.
Diese Erfahrungen hat die Schweiz schon in den 1820er-Jahren gemacht. Schon vor dem Ustertag ist die Freiheit hierzulande grösser als anderswo. Das stört die europäischen Mächte. Darum wollen sie die Schweiz einbinden und kontrollieren. Kaum kann sich unser Land aus dem Einfluss Napoleons lösen, legen der Botschafter des österreichischen Kaisers und des russischen Zaren dem Zürcher Bürgermeister schon ihre Forderungen auf den Tisch.[3]
Die Schweiz und die Heilige Allianz
Die Schweiz ist seit 1817 Mitglied der Heiligen Allianz, heute würden wir sagen: einer supranationalen Organisation. Fast alle Staaten in Europa gehören ihr an.
Der Gründungsvertrag vom September 1815 besteht aus schönen Worten. Es heisst, die Beziehungen zu allen Ländern seien alleine durch „die Gebote der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens“ geprägt. Man wolle „so den menschlichen Einrichtungen Dauer verleihen und ihren Unvollkommenheiten abhelfen.“[4] Hehre Erklärungen – hätte es den Friedensnobelpreis damals schon gegeben, hätte ihn die Heilige Allianz bestimmt erhalten …
Hinter der Kulisse der schönen Worte sieht die Realität etwas anders aus: Die grossen Staaten geben den Ton an. Das Ziel der Heiligen Allianz ist, die Regentschaft der Monarchen gegen die Bürger zu sichern. Die Politik ist von Fürst Metternich geprägt, dem Aussenminister des Kaiserreiches Österreich-Ungarn. Er ist der legendäre Grossmeister der Machtpolitik.
Wer nicht spurt, bekommt die Peitsche zu spüren. Immer wieder drohen die Herrscher mit der Kavallerie. Und sie lassen sie auch ausreiten. Gegen freiheitliche Bürgerbewegungen in Spanien oder in Italien.
Auch die Schweiz kommt ins Visier. Unter dem Druck der heiligen Allianz beschliesst unsere Tagsatzung 1823 das Pressekonklusum, das sie dann über einige Jahre immer wieder verlängert. Das ist eine Vorgabe an die Kantone, wie sie die Presse zu beaufsichtigen haben. Denn die Mächte fordern weniger freie Meinung und mehr Zensur.[5]
Zollmassnahmen werden als Druckmittel eingesetzt: Die Nachbarstaaten lassen ihre Wirtschaftsmacht spielen. Es gibt Zollschwierigkeiten mit Frankreich, es gibt Zollschwierigkeiten mit Preussen.
Die Monarchen lancieren Gerüchte- und Drohkampagnen: Im Waadtland zum Beispiel gehen Agenten zu Winzern unter dem Vorwand, ihren Wein degustieren zu wollen. Im Gespräch machen sie dann den Leuten Angst, die Franzosen zögen Truppen zusammen und würden bald einmarschieren.[6]
Nur nebenbei: Eigentlich schon ein Verlust an savoir vivre, heute schaltet einfach eine Presseabteilung online ein trockenes Communiqué auf …
Die hohen Regierungen in Europa haben die Macht auf ihrer Seite. Gleichzeitig fürchten sie aber, die freiheitliche Ordnung der Schweiz könnte die Bürger auch in ihren eigenen Ländern inspirieren. Freiheit ist in den Augen der Staatsgläubigen immer eine Provokation. Darum zielen die Angriffe immer auch auf den Ruf der Schweiz.
Metternich meint: „Die Schweiz steht heute allein als Republik und sie dient den Unruhestiftern aller Art zum Freihafen.“[7] Dieses Verunglimpfen ist Teil der politischen Strategie. Statt von Freihafen würde Metternich heute wohl von Steueroase sprechen …
Die Grossen kleiden die brutale Machtpolitik in ein pseudo-ethisches Gewand: Die freiheitliche Schweiz wird als moralisch verwerflich dargestellt. Metternich schreibt in einem Instruktionsschreiben für einen kaiserlichen Gesandten von „einer moralischen Fäulnis, die, im Volksgeiste immer mehr sich verbreitend, auch den Grund des eidgenössischen Staatslebens untergräbt.“[8]
Trotz diesem immensen Druck wählt die Schweiz damals mutig ihren eigenen Weg, weil ihr Freiheit wichtiger ist als internationales Lob.
Freiheit unter Druck
Wenn ich auf diese Zeit zurückschaue, denke ich: Vieles ist so anders. Aber vieles ist auch so ähnlich.
Wenn ich jetzt die mutigen Bürger von damals vor mir sehe, frage ich mich: Wie steht es heute um unsere Freiheit? Und wie steht es um unseren Mut, für die Freiheit einzutreten?
Auch wir stehen unter Druck von aussen. Wir stehen in der Kritik, weil bei uns die Bürger mehr Rechte haben und weniger Steuern zahlen als in andern Staaten. Wir kommen unter Druck, weil unsere Ordnung freiheitlicher und demokratischer ist, weil bei uns Privatsphäre und Eigentum geachtet werden. Und wir werden beneidet, weil es uns gut geht.
Nicht weil wir vieles falsch machen, stehen wir immer wieder am Pranger, sondern weil wir vieles besser machen.
Ich habe den Eindruck, wir Schweizer reagieren oft zu defensiv auf Vorwürfe und Erpressungen. Wir dürfen auch einmal daran erinnern, wie andere von uns profitieren: Zum Beispiel, dass die Schweizer Wirtschaft gemäss den Zahlen der Nationalbank gegen 900 Milliarden Franken im Ausland investiert hat, davon über 40% in der EU,[9] dass Schweizer Unternehmen damit weltweit unter anderem mehr als 2.6 Millionen Stellen geschaffen haben.[10] Dazu kommen noch mehr als eine Viertelmillion Grenzgänger, die bei uns ihr Geld verdienen. Allein der Bund hat für das nächste Jahr 3.3 Milliarden Franken für internationale Beziehungen budgetiert.[11]
Wir verlangen dafür keinen Dank – aber wir verlangen Respekt und Fairness.
Manchmal stehen wir uns jedoch auch selbst im Wege. Wir erliegen schnell dem Wunsch, auch irgendwo mitzumachen, auch irgendwie dabei zu sein. Somit fehlt immer wieder der Mut zur eigenständigen Lösung.
Wenn ich, wie damals Hegetschweiler, die Situation mit einem grossen Dichter beschreiben müsste, dann würde ich für unseren Zustand zwischen Verführung und Zwang auf Goethe verweisen. In einer seiner Balladen lockt eine Nixe einen Fischer ins Verderben:
„Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war’s um ihn geschehen;
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehen.“
Wir sind in den letzten Jahren weitgehende internationale Verpflichtungen in verschiedenen Gebieten und mit verschiedenen Partnern eingegangen; mit Staaten ebenso wie mit überstaatlichen Organisationen. In wichtigen Bereichen haben wir mehr oder weniger bewusst Handlungsfreiheit aufgegeben. Mittlerweile stellen wir fest, dass uns aus zahlreichen dieser eingegangenen Verpflichtungen immer neue Verpflichtungen erwachsen. Häufig mit negativen Folgen für unsere Freiheit.
Ist es da nicht an der Zeit, dass wir einmal emotionslos untersuchen, was uns die wichtigsten internationalen Verträge einerseits bringen, andererseits aber uns abverlangen und kosten? Stimmt die Gesamtbilanz noch? Besteht für die Schweiz ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen? Haben wir erhalten, was wir uns erhofft haben oder was uns versprochen wurde?
Bilanz der Bilateralen
Schauen wir uns die wichtigsten bilateralen Verträge mit der EU genauer an. Denn sie stehen beispielhaft für die internationale Positionierung unseres Landes überhaupt:
Landverkehr
Man erhoffte sich viel vom Landverkehrsabkommen. In der Botschaft – so heisst der Bericht des Bundesrates, in dem er eine Gesetzesvorlage erläutert – wurde das Landverkehrsabkommen als „entscheidendes Element zur Erreichung der … Verlagerung von der Strasse auf die Schiene“[12] bezeichnet. Das Ziel von „rund 650‘000 alpenquerenden Strassenfahrten“ werde „voraussichtlich … im Zeitraum ab 2006 bis 2012″[13] erreicht. Heute sieht es anders aus. Vom Ziel von 650‘000 ist man weit entfernt. Rund doppelt so viele Lastwagen fahren über die Alpen, wie man damals angekündigt hatte.
Was die nördlichen und südlichen Zulaufstrecken zur NEAT in Deutschland und Italien betrifft, so sollte das bilaterale Landverkehrsabkommen den Bau dieser Strecken sichern.[14]
Von diesen Zulaufstrecken wurde bis heute kaum etwas realisiert.
Dublin
Nicht nur beim Landverkehrsabkommen müssen wir feststellen, dass Vertragspartner ihre Verpflichtungen nicht richtig einhalten. Nehmen wir das Dublin-Abkommen als weiteres Beispiel:
Gemäss diesem Abkommen ist jenes Land für ein Asylverfahren zuständig, in welchem ein Asylbewerber sein erstes Gesuch gestellt hat. Wer also nicht mit dem Flugzeug hier landet, für den können wir logischerweise gar nicht zuständig sein, da wir von Dublin-Staaten umgeben sind. Für den grossen Teil der Asylgesuchsteller ist gemäss dem Abkommen Italien zuständig. Ich sage gemäss Abkommen – In der Realität sieht es anders aus: Italien hat die Rückübernahmen begrenzt.[15]
Schengen
Oder nehmen wir Schengen: In der Botschaft zu den Bilateralen II hiess es, das Abkommen diene der „Stärkung der inneren Sicherheit“.[16]
Heute lesen wir von Kriminellen, die von keiner Grenzkontrolle mehr gestoppt werden, von ausländischen Banden, die von der Polizei kaum gefasst werden können, da sie sich sofort wieder ins Ausland absetzen. Bei den Versicherungen wurden allein dieses Jahr 20% bis 30% mehr Einbrüche gemeldet. Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt verzeichnet seit Anfang Jahr eine Zunahme der Einbrüche von 45%.[17] Oder wir hören den Hilferuf einer Staatsrätin aus der Waadt, wir sollten die Grenzen wieder strenger kontrollieren.[18]
Wir stellen auch fest, dass andere Schengen-Staaten genau dies tun: Frankreich und Dänemark haben zeitweise ihre Kontrollen wieder eingeführt.
Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass an der türkisch-griechischen Grenze die griechischen Behörden schon seit längerer Zeit die Situation nicht mehr im Griff haben. Die illegale Einwanderung über die griechische Grenze und die Balkanroute hat sich verstärkt. Inklusive Begleiterscheinungen wie Menschen- und Drogenhandel.
In Bezug auf die Sicherheit ist Schengen klar hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben. Es gibt aber zwei Bereiche, in denen Schengen unsere Erwartungen massiv übertroffen hat: Der Personalaufwand ist viel grösser als angenommen. Und die Kosten sind viel höher als erwartet. Von 30 bis 40 Stellen war ursprünglich die Rede, die man zudem intern kompensieren könne. Heute dürfte der Arbeitsaufwand 200 Stellen übersteigen. Kosten von um die 7 Millionen Franken pro Jahr wurden anfänglich veranschlagt. Für 2013 sind wir bei 100 Millionen Franken.
Von Bürgern habe ich schon gehört, Bundesbern sei wie Schilda: Mehr Leute arbeiten für mehr Sicherheit. Und sie erreichen, dass mit Sicherheit die Unsicherheit zunimmt.
Bankkundengeheimnis
Die Bilateralen II waren unter anderem auch als Entgegenkommen an die EU gedacht, um im Gegenzug das Bankkundengeheimnis zu sichern. Man warnte vor erheblichen volkswirtschaftliche Risiken – ich zitiere wieder aus der Botschaft: „So wäre beispielsweise im Falle eines Scheiterns der finanzplatzrelevanten Abkommen seitens der EU mit unmittelbar steigendem Druck auf das Bankgeheimnis zu rechnen.“[19]
Heute haben wir diesen Druck trotzdem. Die damaligen Hoffnungen und Erwartungen haben sich auch in diesem Punkt nicht erfüllt. Ich habe eingangs gesagt, wir sollten die Grundsätze des Ustertages auch nach dem Festakt im politischen Alltag nicht vergessen.
Das gilt auch für das Bankkundengeheimnis: Das Bankkundengeheimnis schützt die Privatsphäre, genau wie das Arztgeheimnis oder das Postgeheimnis. Der Schutz der Privatsphäre ist eine urliberale Errungenschaft, die im Kern auf die 1830er-Jahre zurückgeht.
Einwanderung
Die grössten Schwierigkeiten ergeben sich aber mit der Personenfreizügigkeit. Ihre Folgen spüren wir sehr viel stärker, als ursprünglich angenommen. In der Botschaft hiess es noch: „Generell kann angenommen werden, dass selbst bei einer vollständigen Realisierung der Freizügigkeit mit der EU keine massive Einwanderung zu erwarten ist …“[20]
Heute müssen wir feststellen, dass genau das stattfindet: Eine massive Einwanderung!
Wir hatten in den letzten fünf Jahren einen Einwanderungssaldo von durchschnittlich gegen 80‘000 Ausländern pro Jahr. Das ist mehr als die Stadt Luzern Einwohner hat; oder fast dreimal die Stadt Uster – und das, wie gesagt, jedes Jahr. Die Schweiz ist ein kleines Land und schon jetzt dicht besiedelt. Diese massive Einwanderung bringt uns in jeder Hinsicht an die Kapazitätsgrenzen. Haben wir uns überlegt, was das für unsere Infrastrukturen heisst, für den privaten und den öffentlichen Verkehr, für Schulen, Spitäler, Energieversorgung; für die Immobilienpreise und den Wohnungsmarkt; für den Umweltschutz und das Lohnniveau?
Es liegt auf der Hand: Wir sollten reagieren. Eigentlich müsste es ja allen klar sein, dass ein Bevölkerungswachstum in diesem Ausmass längerfristig nicht zu bewältigen ist und zu gefährlichen Spannungen führen kann.
Aber durch den Vertrag mit der EU sind uns die Hände gebunden. Unsere Reaktion ist darum Symptombekämpfung. Und sie entspricht auch nicht den liberalen Prinzipien, die unsere Wirtschaft stark gemacht haben: Wir erweitern die flankierenden Massnahmen. Nun sollen diese gemäss einem parlamentarischen Vorstoss sogar auf den Wohnungsmarkt ausgedehnt werden. Flankierende Massnahmen sind aber nichts anderes als Einschränkungen der liberalen Grundsätze, denen wir unsern Erfolg verdanken.
Zusammenfassend müssen wir feststellen: Unsere Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung in der Ausländerpolitik haben wir weitgehend aufgegeben. Mit Schengen müssen wir die Visumpolitik der EU nachvollziehen, mit der Personenfreizügigkeit können wir die Zuwanderung nicht mehr steuern.
Macht und Recht
Mich beschäftigt diese Entwicklung. Und ich frage mich: Wenn wir eine Gesamtbeurteilung der Verträge vornehmen, sind wir dann noch so sicher, dass das Resultat für uns stimmt?
Internationale Beziehungen werden durch zwei Faktoren bestimmt: Durch Macht und durch Recht. Grossmächte setzen immer wieder auf Macht. Das ist nichts Neues, wie wir aus der Geschichte wissen – und auch aus den Erfahrungen der letzten Jahre. Sollte sich die Schuldenkrise weiter verschärfen, wird auch die Machtpolitik noch an Härte zunehmen.
Als Kleinstaat ist das Recht für uns umso wichtiger. Im Gegensatz zu Grossmächten können wir nicht einfach im Nachhinein die Vereinbarungen ignorieren oder nach unseren Interessen zurechtbiegen.
Weil also das Recht für uns so wichtig ist, müssen wir den internationalen Verbindlichkeiten besondere Aufmerksamkeit schenken. Und uns besonders gut überlegen, gegenüber wem wir welche Verpflichtungen eingehen. Und auch, wie lange wir in einem Vertragsverhältnis bleiben wollen.
Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, wie sich solche Verträge weiterentwickeln. Oft entfalten sie eine eigene Dynamik. Mit immer neuen Anpassungen und Erweiterungen entwickelt sich ein Sog hin zu immer mehr Gleichschaltung.
Neuerdings fordert die EU sogar, dass wir ihr Recht automatisch übernehmen. Auch alles zukünftige, das wir noch gar nicht kennen. Wir würden uns also der Rechtshoheit der EU unterwerfen. Wollen wir das wirklich?
Die Beziehungen zur EU zeigen exemplarisch, was wir auch im Verhältnis zu andern internationalen Organisationen oder auch zu Staaten, etwa den USA feststellen: Gewisse internationale Verträge bringen immer neue Verpflichtungen mit sich. Und sie tangieren immer stärker unsere Freiheit sowie unsere innerstaatliche Ordnung.
Freiheit wagen
Wir haben ja bereits von Johannes Jacob Hegetschweiler gehört, dem Redner am Ustertag, der damals Schiller zitiert hat. Könnten wir ihn heute noch fragen, würde er wohl auch jetzt wieder Schiller zitieren. Zum Beispiel aus dem Lied der Glocke: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet … Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.“
Vielleicht wäre es an der Zeit, ganz grundsätzlich die Vorzüge wichtiger internationaler Verträge gegen deren Nachteile abzuwägen, einmal nüchtern eine Bilanz zu erstellen. Und wenn sie für uns nicht stimmt, dann die Konsequenzen zu ziehen. Ich gebe zu: Das braucht Mut – Freiheit wagen, das braucht immer Mut. Das ist heute gleich wie damals vor 182 Jahren.
Am 22. November 1830 haben die Bürger hier in Uster den Aufbruch in die Freiheit gewagt. Das war mutig. Aber es hat sich gelohnt. Darum feiern wir heute noch den Ustertag …
[1] Zit. nach Karl Dändliker, Der Ustertag und die politische Bewegung der Dreissiger Jahre im Canton Zürich, Zürich 1881, S. 58
[2] Karl Dändliker, Der Ustertag und die politische Bewegung der Dreissiger Jahre im Canton Zürich, Zürich 1881, S. 59
[3] Wilhelm Oechsli, Lebzeltern und Capo d’Istria in Zürich, in: Festgaben zu Ehren Max Büdinger’s, Innsbruck 1898
[4] Historisches Seminar der Universität Bern (Hg.), Quellen zur neueren Geschichte, Europapolitik zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Bern 1944, I. Die Heilige Allianz (Original französisch), S. 5
[5] Siehe dazu Robert Baum, Die Schweiz unter dem Pressekonklusum, Diss. Zürich 1947
[6] Robert Baum, Die Schweiz unter dem Pressekonklusum, Diss. Zürich 1947, S. 30ff., insbes. S. 32
[7] Werner Sutermeister, Metternich und die Schweiz 1840 – 1848, Bern 1895, S. 3 Fn 1
[8] Arnold Winkler, Metternich und die Schweiz, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte, 1927, S. 60
[9] http://www.snb.ch/ext/stats/fdi/pdf/de/1_2_CH_Direktinve_Kapitalbestand.pdf
[10] http://www.snb.ch/ext/stats/fdi/pdf/de/1_3_CH_Direktinve_Personalbestand.pdf
[11] Bericht zum Voranschlag 2013, S. 28 und S. 70
[12] Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999, 6282
[13] Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999, 6291
[14] Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999, 6292
[15] 11.5086 – Fragestunde, Dublin ausser Kraft, Antwort des Bundesrates vom 07.03.2011
[16] Botschaft zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II») vom 1. Oktober 2004, BBl 2004, 5991
[17] Der Sonntag online, „Ein Viertel mehr Einbrüche“, abgerufen am 29.10.12
[18] „Wir müssen die Grenzen strenger kontrollieren“, Interview mit Staatsrätin De Quattro, NZZ am Sonntag, 10.2.12, S. 10
[19] Botschaft zur Genehmigung der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, einschliesslich der Erlasse zur Umsetzung der Abkommen («Bilaterale II») vom 1. Oktober 2004, BBl 2004, 6012
[20] Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG vom 23. Juni 1999, BBl 1999, 6350