Die gestrige Medienkonferenz von Bundespräsident Burkhalter nach der Bundesratssitzung war entwaffnend. Den Kern der präsidialen Ausführungen bildeten nicht etwa die Beschlüsse des Bundesrates über die Zuwanderung aus Kroatien, sondern das gleichentags erteilte Placet der ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel zu einem Verhandlungsmandat für die sogenannten „institutionellen Fragen“.
Editorial von Martin Baltisser, Generalsekretär SVP Schweiz
Die gestrige Medienkonferenz von Bundespräsident Burkhalter nach der Bundesratssitzung war entwaffnend. Den Kern der präsidialen Ausführungen bildeten nicht etwa die Beschlüsse des Bundesrates über die Zuwanderung aus Kroatien, sondern das gleichentags erteilte Placet der ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel zu einem Verhandlungsmandat für die sogenannten „institutionellen Fragen“. Ein Rahmenabkommen mit Brüssel sei „der Schlüssel“ für die künftigen Beziehungen der Schweiz zur EU, betonte Burkhalter gleich mehrfach. Klar ist seit gestern ebenfalls, dass ein solches Abkommen für den Bundesrat auch der Schlüssel für die Umgehung des Volksentscheids vom 9. Februar 2014 ist.
Bislang wurden die Verhandlungen über eine weitere institutionelle Anbindung der Schweiz mit dem Argument verkauft, eine Harmonisierung der Rechtssetzung und der Rechtsauslegung sei nötig für den künftigen Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt. Immer mehr wird nun klar, dass ein solches Abkommen auch dazu dienen soll, den Volksentscheid vom 9. Februar zur Masseneinwanderungsinitiative rückgängig zu machen. Wenn sich die Schweiz zur Übernahme des EU-Rechts und dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof in allen für den Binnenmarktzugang relevanten Bereichen verpflichtet, was dem Verhandlungsmandat des Bundesrates vom 18. Dezember 2013 entspricht, bedeutet das auch ein umfassendes Bekenntnis zur Personenfreizügigkeit, als eine der vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarktes (freier Warenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr, freier Personenverkehr). Dies, obwohl die Schweiz nicht Mitglied des EU-Binnenmarktes ist. Kommt ein solches Abkommen zustande und stimmt ihm das Volk in einer absehbaren Referendumsabstimmung zu, hebelt es als völkerrechtlicher Vertrag auch die seit dem 9. Februar 2014 geltende Verfassungsbestimmung zur Steuerung der Zuwanderung aus. Genau dies ist die Strategie des Bundesrates. Die angelaufene innenpolitische Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative verkommt damit ebenso zum Nebenschauplatz wie das aktuelle Geplänkel über den Zugang zu den EU-Bildungs- und Forschungsprogrammen. Zu Verhandlungen mit Brüssel über eine Anpassung des Freizügigkeitsabkommens als Folge der angenommenen Volksinitiative wird es nach dem Wunschszenario des Bundesrates nicht einmal mehr kommen, da ein Rahmenabkommen vorher unter Dach und Fach sein sollte.
Spiegelfechterei
Und so wurde die aufmerksame Öffentlichkeit gestern Zeuge einer bis ins letzte Detail inszenierten Spiegelfechterei. Der Bundesrat winkte zwei von Brüssel bestellte Erklärungen durch und kommunizierte diese bereits kurz nach Sitzungsbeginn per Communiqué. Darauf wiederum warteten die EU-Botschafter in Brüssel, damit diese ihrerseits grünes Licht für das Verhandlungsmandat mit der Schweiz zu den institutionellen Fragen geben konnten. Ein Verhandlungsmandat, dessen Inhalt dem Mandat des Bundesrates für die Schweiz entsprechen dürfte. Darauf hatten sich die beiden Chefunterhändler der Schweiz und der EU, Rossier und O’Sullivan, bereits im vergangenen Jahr verständigt. Die Beschlüsse des Bundesrates von gestern sind dabei von untergeordneter Bedeutung. Die Erklärung des Bundesrates „betreffend die Nicht-Diskriminierung von kroatischen Bürgern und Bürgerinnen“ entspricht einer materiellen Umsetzung der mit Kroatien vereinbarten Kernelemente zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf dieses Land. Da in der Übergangszeit begrenzte Kontingente vorgesehen waren, ist formell nichts gegen dieses Vorgehen einzuwenden. Dass der Bundesrat auch den „Erweiterungsbeitrag“ von 45 Millionen überweisen will, erhält im aktuellen Kontext den Beigeschmack einer Reparationszahlung. Dieser Vorgang ist Sinnbild für die Befindlichkeit der Landesregierung nach dem 9. Februar.
Nichts ohne Personenfreizügigkeit
Was erhält die Schweiz für dieses Entgegenkommen an Kroatien? Kurzfristig gar nichts. Die EU sei nun bereit, wieder über eine vollständige Assoziierung der Schweiz an die EU-Bildungs-, Forschungs- und Kulturprogramme zu verhandeln. Dem Vernehmen nach macht die EU jedoch den Abschluss entsprechender Verhandlungen und damit eine langfristige Lösung wiederum von einem Bekenntnis der Schweiz zur Personenfreizügigkeit abhängig. Die Katze beisst sich in den Schwanz.
Auch die zweite Erklärung des Bundesrates „betreffend die erworbenen Rechte der Bürgerinnen und Bürger aus EU- oder EFTA-Ländern, die in der Schweiz leben oder arbeiten“ macht auf den ersten Blick mehr oder weniger ratlos. Darin wird auf einen Artikel im Freizügigkeitsabkommen verwiesen, der für Personen, die unter dieser Regelung in die Schweiz gekommen sind, den rechtlichen Besitzstand garantiert. Zusammen mit der einleitenden Erklärung des Bundesrates, dass das Freizügigkeitsabkommen „bis auf Weiteres“ in seiner heutigen Fassung in Kraft bleibt, kommt das einer Einladung an möglichst viele EU-Bürger gleich, unter diesem Regime noch in die Schweiz zu kommen und hier zu bleiben. Die Auslegung dieses Punktes wäre allenfalls in späteren Verhandlungen mit der EU noch eine Trumpfkarte gewesen. Sie wurde gestern verworfen, weil die EU dies so gefordert hat.
Bei Philippi sehen wir uns wieder
Und so kulminiert nun alles im besagten Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Ein solches könnte schneller vorliegen, als derzeit angenommen. Schliesslich wurde der Inhalt in einem längeren Prozess zwischen Bern und Brüssel bereits im vergangenen Jahr umrissen. Mit der Zustimmung von Volk und Ständen zur Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar dieses Jahres bekommt dieses Abkommen nun eine weitere taktische Note. Es soll dazu dienen, den aus Sicht des Bundesrates falschen Volksentscheid zu heilen. Dazu passt die eingeschlagene Kommunikationsstrategie, die Folgen des 9. Februar in den schwärzesten Farben auszumalen und jedes negative Ereignis im Land darauf zurückzuführen. Das Ziel: Möglichst viele Personen, die der Initiative zugestimmt haben, sollen sich ein schlechtes Gewissen machen. Das Volk soll jedoch mit dem Rahmenabkommen die Möglichkeit erhalten, seinen Fehlentscheid zu korrigieren.
Und so wird es bei einer allfälligen Abstimmung über eine institutionelle Anbindung um sehr viel gehen: Soll die Schweiz zwingend EU-Recht in zentralen Rechtsbereichen übernehmen, also die Rechtsentwicklung aus der Hand geben und an EU-Gremien übertragen? Soll die Schweiz die Rechtsauslegung dem Europäischen Gerichtshof überlassen, also fremde Richter akzeptieren? Und schliesslich: Soll die Schweiz zur Personenfreizügigkeit zurückkehren und damit auch in Zukunft auf eine Steuerung der Zuwanderung verzichten?
Es wird bei dieser Abstimmung also letztlich um nicht mehr und nicht weniger als um die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gehen. Und auch hier war Bundespräsident Burkhalter gestern entwaffnend offen. Er begründete das Vorgehen des Bundesrates auf die Frage eines Journalisten mit dem Auftrag, den er aus dem Zweckartikel der Bundesverfassung ableite. Er erwähnte dabei zwar die Wohlfahrt und die Sicherheit des Landes, vergass aber die Freiheit und die Unabhängigkeit, welche in Artikel 2 der Bundesverfassung auf gleicher Stufe stehen. Auch das spricht Bände.