Ginge es nach der Mehrheit des Nationalrats, soll der Staat direkt in private Verträge eingreifen und eine zwangsweise Senkung der Mietzinse bis zu einem bestimmten Maximalbetrag verfügen. Dass dieser Eingriff verfassungswidrig ist, befand die Ratsmehrheit als wenig relevant. Ebenso scheint es viele Parlamentarier nicht zu kümmern, dass der Beschluss zu massiver Rechtsunsicherheit führt, da viele Mietparteien bereits anderslautende Vereinbarungen getroffen haben. Die angestrebte Zwangsregelung könnte kaum vor 2022 in Kraft treten. Aktionismus ist angesagt in Bundesbern – Flurschäden werden bereitwillig in Kauf genommen. Ein schlechtes Zeugnis für die neuen Parlamentsmehrheiten.
Das neue Corona-Virus stellte die Welt innert weniger Wochen auf den Kopf. Am 16. März erklärte der Bundesrat die „ausserordentliche Lage“. Fortan steuerte Bundesbern das ganze Land zentral; die Kantone hatten nur noch eingeschränkte Kompetenzen. Freiheitsrechte wurden eingeschränkt, politische Prozesse heruntergefahren, die Wirtschaft faktisch lahmgelegt. Solche Situationen sind für die Wirtschaft, vor allem aber auch für den Rechtsstaat und die Demokratie eine enorme Bedrohung. Darum darf die Situation nicht nur aus gesundheitspolitischer Sicht betrachtet werden: Auch eine wirtschaftliche und vor allem eine staatspolitische Analyse drängen sich auf.
Polizeigeneralklausel und Epidemiengesetz
Die ausserordentliche Lage rief der Bund gestützt auf Art. 185 der Bundesverfassung (Polizeigeneralklausel) sowie das Epidemiengesetz (EpG) aus. Daraufhin verfügte er Massnahmen, welche beträchtliche Eingriffe in Grundrechte zur Folge hatten. Damit bewegt er sich sowohl politisch, aber auch juristisch auf dünnem Eis. Die genannten verfassungsmässigen und gesetzlichen Grundlagen geben dem Bund nämlich nicht generelle Vollmachten, wie immer wieder behauptet wird: Sie erlauben einzig die gezielte und direkte Bekämpfung der drohenden Gefahren – also des neuen Corona-Virus.
So bezweckt das Epidemiengesetz, „den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen“ (Art. 2 EpG). Die COVID-19-Verordnung 2 des Bundesrates wiederum umfasst Massnahmen, um die Verbreitung des Corona-Virus in der Schweiz zu verhindern oder einzudämmen, die Häufigkeit von Übertragungen zu reduzieren, um besonders gefährdete Personen zu schützen sowie die Kapazitäten der Schweiz zur Bewältigung der Epidemie sicherzustellen (Art. 1 Covid-19-Verordnung 2). All dies soll der direkten und gezielten Bekämpfung des Virus dienen.
Diese Bestimmungen sowie die polizeiliche Generalklausel sind notfallmässige Ersatzgrundlagen, die nur in Fällen ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr gelten. Die Massnahmen, welche die öffentliche Hand auf dieser Grundlage trifft, müssen immer verhältnismässig sein.
Keine Legitimation für jedwelchen Eingriff
Notstandssituationen sind gefährlich: Krisen, Kriege oder Katastrophen fordern den Rechtsstaat heraus. Die Abläufe der Gesetzgebung benötigen oft viel Zeit. Darum behilft man sich in solchen Situationen mit Notrecht: Der Regierung werden weitgehende Befugnisse übertragen. Doch auch wenn eine Notlage herrscht, gelten die verfassungsmässigen Rechte.
So auch der Schutz des Privateigentums: Notrecht legitimiert nicht automatisch jeden entschädigungslosen Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit und das Privateigentum. In „schweren Mangellagen, denen die Wirtschaft nicht selbst zu begegnen vermag“ (Art. 102 BV) können aufgrund des Landesversorgungsgesetzes (LVG) z.B. Geschäftsräume oder Transportfahrzeuge requiriert oder Betriebsschliessungen angeordnet werden. Hierfür sieht Art. 38 LVG aber Abgeltungen vor. Eine ähnliche Regelung enthält das Enteignungsgesetz, welches in Art. 16 EntG eine „volle Entschädigung“ bei Enteignungen vorsieht.
Dies alles dokumentiert: In Art. 185 BV geht es nicht um Fragen der Staatsräson, sondern schlicht um das Problem fehlender Voraussehbarkeit und das Erfordernis raschen Handelns – so auch die herrschende Lehre und diverse aktuelle Gutachten.
Entschädigungsfrage steht im Raum
Im Gegensatz zum LVG oder zum EntG sieht das EpG keine vergleichbaren Abgeltungen vor. Die Bestimmungen von Art. 63 ff. EpG beziehen sich auf Einzelpersonen oder Sachverhalte aus dem medizinischen Bereich. Diese Gesetzeslücke erweist sich als folgenschwer. Denn neben Ladenlokalen und Restaurants, welche derzeit mit den Vermietern über die Kosten der Zwangsschliessungen streiten, stehen die Spitäler im Fokus. Diese betrieben im Hinblick auf die Vermeidung möglicher Engpässe bei der Behandlung von Covid-19-Patienten einen beträchtlichen Mehraufwand für entsprechende Vorhalteleistungen. Um die nötigen Behandlungskapazitäten sicherzustellen, untersagte der Bundesrat am 17. März die Durchführung von Wahleingriffen und nicht dringlichen Therapien bis zum 26. April 2020. Da die Spitäler im fraglichen Zeitraum nur dringliche Behandlungen durchführen durften, müssen sie bis Ende Jahr mit Ertragsausfällen in Milliardenhöhe rechnen. Es drohen Liquiditätsengpässe, und die Kantone müssen Massnahmenpakete für die Spitäler schnüren, um die Versorgungsstrukturen sicherzustellen.
Bund steht in der Pflicht
Der Staat ist selbstverständlich keine Vollkaskoversicherung – und er hat auch kein eigenes Geld. Dies ist bei der Diskussion von Massnahmen zur Krisenbekämpfung stets zu beachten. Trotzdem: Wo der Bund eingreift, steht er in der Verantwortung. Es kann nicht sein, dass Eingriffe in Grundrechte wie das Privateigentum und die Wirtschaftsfreiheit entschädigungslos erfolgen können. Was die Befürworter der erwähnten, heute überwiesenen Motion übersehen: Ebenso wie der Bund – immerhin gestützt auf das EpG – mit den Betriebsschliessungen einen erheblichen Eingriff in die Handels- und Gewerbefreiheit und die Eigentumsfreiheit zu verantworten hat, nehmen die Motionäre – dieses Mal ohne Verfassungsgrundlage! – mit der zwangsweisen Anordnung von Mietzinserlassen einen Eingriff in die Wirtschafts- und die Eigentumsfreiheit vor.
Darum ist es falsch, wenn nun die Vermieter in Fragen von Betriebsschliessungen geradestehen sollten: Die Ursache für die Störung im Gebrauch der Mietsache liegt nicht in einer fehlerhaften Leistung des Vermieters, sondern vielmehr an der Tatsache, dass behördliche Anordnungen dem Mieter verunmöglichen, seinem Geschäft wie gewollt nachzugehen. Für den Vermieter ist es unmöglich, die durch die behördlichen Verbote bewirkte Störung des eingemieteten Betriebs zu beseitigen. Darum fehlt es an einer Grundlage für die Herabsetzung des Mietzinses wegen Mangelhaftigkeit der Sache. Dass das Bundesamt für Justiz der zuständigen Parlamentskommission offenbar mitgeteilt hat, die kritisierte Motion stelle aus juristischer Sicht kein Problem dar, wirft ernsthafte Fragen über die Seriosität dieses von der Kommissionsberichterstatterin erwähnten Gutachtens auf.
Verfassungswidrige Kompetenzüberschreitung
Sollte das Parlament tatsächlich beschliessen, die Vermieter zu zwingen, auf einen substantiellen Teil der Miete zu verzichten, ist dies verfassungswidrig: Weder Parlament noch Bundesrat können sich auf eine verfassungsmässige Kompetenz für einen solchen Eingriff berufen.
Kommt hinzu: Die vom Nationalrat beschlossene Vorlage ist ein klassisches Eigengoal. Die Vermieter, welche Eigenverantwortung übernommen und zusammen mit ihren Mietern eine einvernehmliche Lösung gesucht haben, werden vor den Kopf gestossen. Diejenigen Mieter wiederum, welche dringend eine Lösung benötigen, sehen sich mit einer zweijährigen Rechtsunsicherheit konfrontiert: Bis 2022 wissen sie nicht, was nun gilt.
Den grössten Schaden aber trägt der Rechtsstaat: Ein Parlament, das sich über die Landesverfassung hinwegsetzt, Enteignungen vornimmt und privatrechtliche Verträge eigenmächtig abändert, würde man eher einer südländischen Diktatur zuordnen als einer modernen, westlichen Demokratie. Immerhin besteht die Aussicht, dass der Bundesrat oder letztlich der Souverän im Rahmen einer Referendumsabstimmung dieses Verdikt noch korrigieren können.