Referat

125 Jahre Friedrich Traugott Wahlen

Ein Bund. Geschlossen im Namen Gottes des Allmächtigen. 26 Kantone. Vier Sprachen. Eigenständig. Weltoffen. Unabhängig. Menschlich. Die Schweiz ist ein Land wie kein anderes. Friedrich Traugott Wahlen symbolisiert das alles für mich.

Adolf „Dölf“ Ogi
Adolf „Dölf“ Ogi
a. Bundesrat (BE)

In meinem Geburtsjahr 1942 wurde der Berner Friedrich Traugott Wahlen vom Zürcher Volk in den Ständerat gewählt.

Friedrich Traugott Wahlen wurde verehrt im Hause Ogi in Kandersteg – seit meiner frühsten Jugend. Wahlen hat in Regensberg, Kanton Zürich, ein Denkmal mit einer bemerkenswerten Inschrift: „39-45 Trutz der Not durch Schweizerbrot Bürgerinnen und Bürger gedenken 1991 in Dankbarkeit des Friedrich Traugott Wahlen eines Mannes von nüchterner Religiosität Organisator Motivator …Bundesrat“

1939-1945: Friedrich Traugott Wahlen ist der Mann der Anbauschlacht. Es galt während der Kriegsjahre: Ein Ei pro Monat pro Person. Nein, an Gewicht nahm damals niemand zu. Aber auch nein, niemand hungerte. Beim Bernabrunnen vor dem Bundeshaus West wuchsen Kartoffel, in Zürich auf der Sechseläutenwiese, der Golfplatz im sanktgallischen Bad Ragaz kam unter den Pflug. Und so von Chancy bis Diepoldsau! Und so von Hallau bis Chiasso! 1940 hatte Friedrich Traugott Wahlen als Chef der Abteilung für landwirtschaftliche Produktion und Hauswirtschaft im Eidgenössischen Kriegsernährungsamt die Weichen gestellt. Wahlen wurde, was eigentlich in der Schweiz fast gar nicht möglich ist: Ein populärer Beamter!

Niemand tut grosse Dinge allein. auch Friedrich Traugott Wahlen vermochte es nicht. Je grösser die Verantwortung, desto klarer sieht man, dass man politisch immer nur gemeinsam oder aber gar nicht handeln kann. Und doch: Es braucht die Persönlichkeit, die den Impuls gibt. Und das war es, was Wahlen auszeichnete. Als Redaktor der „Grünen“, der Zeitschrift für die Landwirtschaft, die ja immer noch existiert, als Gestalter eines Pavillons an der Landesausstellung 1939, der legendären Landi.

Nein, ich habe das alles nicht erlebt. Aber seit frühester Jugend habe ich von Wahlen gehört. Für mich ein fernes, fast unerreichbares Ideal! Ich war 16, im formbarsten Alter, als Wahlen Bundesrat wurde. Selbstverständlich hat man damals, 1958, von ihm gesprochen. Und seither ist er stets im Bewusstsein geblieben. „Die direkte Demokratie ist die Staatsform der Geduld.“ Dieses Wort von Wahlen hat sich mir eingeprägt. „Mehr anbauen oder hungern.“ Die Formel zeigt den politischen Kommunikator.

Dieser Schweizer hatte von 1949 an im Dienst der Welternährungsorganisation FAO in Rom gearbeitet, zuletzt als Vizedirektor. Was der Vater der Anbauschlacht für sein Land als Agronom gedacht und getan hatte, stellte er auch der Welt zur Verfügung.

Überall – beruflich, persönlich, politisch: Zu seinen Werten zu stehen, auch zu seinen religiösen Werten, war im wichtig Sie können sich vorstellen, wie der unvergessene Pfarrer Ulrich Junger – er kam nach Kandersteg als ich 13 Jahre alt war – vom Mann aus Mirchel zu uns Konfirmanden gesprochen hat! Durch Junger ist Wahlen für mich zum Symbol geworden, zum Symbol dessen, was die Schweiz vermag.

Und dann verstarb Bundesrat Markus Feldmann 1958 im Amt. Die bernische BGB schlug Regierungspräsident Walter Siegenthaler vor. Gewählt wurde Friedrich Traugott Wahlen! Was für zeitlose Worte waren es, mit denen er die Wahl annahm! Er trete in den Bundesrat „meinem Gewissen, dem Wohle des geliebten Schweizervolkes und den Grundlagen der abendländischen Zivilisation und Kultur verpflichtet“. Getreu dieser Erklärung hat er gedient, im Justiz- und Polizeidepartement, im Volkswirtschaftsdepartement, im Politischen Departement, dem heutigen EDA. Er kämpfte erfolgreich für die EFTA, zu der die Schweiz heute noch gehört. Er stritt für den Europarat, wo Helvetien immer noch Sitz und Stimme hat. Wahlen hatte aber keinen europäischen Tunnelblick, für Wahlen gab es nur eine einzige und ungeteilte Menschheit. In Wahlens Zeit als Bundesrat fällt die Gründung des Dienstes für technische Hilfe, aus dem über den Dienst für technische Zusammenarbeit und weitere Umbenennungen und Umorganisationen die heutige Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA geworden ist. Eine Erfolgsgeschichte! Auf das Geleistete dürfen wir heutigen Bürger und Bürgerinnen noch immer stolz sein.

Wenn Sie sich, sehr verehrte Damen, meine Herren, wenn Sie sich all das vergegenwärtigen, werden Sie feststellen, dass ich in der eigenen Tätigkeit als Bundesrat versucht habe, mich an Friedrich Traugott Wahlen zu orientieren. Ja ich habe mir, immer wieder, ganz persönlich für mich selbst, die Frage gestellt, was würde Wahlen tun. Und zwar keineswegs im Sinne von Personenkult, sondern, weil ich sah und spürte, was dieser Mann an Werten mitbrachte, wie weit sein Horizont war. Dabei hat mich Wahlen keineswegs nur direkt, über das Gelesene, Gesehene, Gehörte, beeindruckt. Er hat mich auch indirekt, über einen seiner Kollegen im Bundesrat, stark beeinflusst. Hans-Peter Tschudi hat mir selbst erzählt, wie er Friedrich Traugott Wahlen als guten Geist des Bundesrates erlebt habe, wieviel er von ihm gelernt habe. An Wahlen orientierte Tschudi seine Ratschläge an mich – ich hatte ihn um Tipps gebeten. Hans-Peter Tschudi behandelte mich wie ein Vater seinen Sohn. Mit Offenheit. Mit Wärme. Er sagte mir: «Schau, im Bundesrat musst Du gehorchen: Dem Parlament, das wählt Dich. Den Kollegen, die überstimmen Dich, wenn Du sie nicht überzeugst. Der Verwaltung, die ist mächtig durch ihr Wissen. Deshalb musst Du Dich auf das Wichtige konzentrieren.“  Zum Beispiel auf den Europarat. Zum Beispiel auf die AHV. Zum Beispiel auf die NEAT. „Und dann musst Du dafür sorgen, dass Du Leute um Dich hast, die es gut mit dem Land meinen. Nicht mit dieser Partei, nicht mit jener, nicht mit sich selbst, sondern mit dem Land.» Ich habe zugehört. Und ich habe versucht zu tun, was Hans-Peter Tschudi mir geraten hat. Was er mir im Geist von Friedrich Traugott Wahlen geraten hat. Denn wir alle sind der erbarmungslosen Zeit unterworfen: Ich wurde 1987 ins Kollegium gewählt. Zwei Jahre nach Wahlens Tod. Tschudi lebte bis 2002. Wenn ein SVP-Bundesrat bei einem SP-Altbundesrat Ratschläge einholt, wenn dieser SP-Altbundesrat offen und freimütig davon spricht, wie viel er von einem seiner Kollegen, einem BGB-Mann gelernt hat, dann sehen Sie da ein wahrhaftes Stück Schweiz. Nein, ich hätte es in politisch bewegten Jahren so nicht im Albisgütli erzählt. Es war nicht die Zeit und es war nicht der Ort. Aber wahr ist es und bleibt es, das dürfen sie einem im 82. Jahr nicht mehr gar so jungen Mann glauben. Und ebenso dürfen Sie mir glauben, dass ich immer mit Dankbarkeit daran denken werde, dass unser Land Persönlichkeiten vom Zuschnitt eines Friedrich Traugott Wahlen eines Hans-Peter Tschudi, eines Rudolf Minger hervorgebracht hat. Und andere wie sie! Das stimmt mich zuversichtlich für die Zukunft: Was einmal möglich war, wird wieder möglich sein. Ja, die heutigen Umstände sind schwierig. Ja, die moderne Politik ist kompliziert. Und doch: Was ist das im Vergleich zum Jahr 1942, im Vergleich zum Jahr der Zürcher Ständeratswahl des Berners aus Mirchel? Wie war das damals wirklich? Die Berner unter Ihnen erinnern sich wohl alle, wenigstens die Älteren, an den Kafi-Giger, ein Berner KMU, Kaffeerösterei, Vertrieb, Handel. Der Inhaber Hans Giger verschickte jeweils Weihnachtskarten an seine Kunden und Freunde mit eigenen Gedichten und mit von Friedrich Traffelet gestalteten Bildern.

Mit Hans Gigers Gedicht aus dem gefahrschwangeren Jahr 1942 will ich schliessen. Darin klingt vieles an, was wir wohl alle mit Friedrich Traugott Wahlen verbinden: „Bald lütet’s Zwöievierzgi us, Fescht steit im Sturm no ds Schwyzerhus. Dr Hunger het is no verschont, Die schwäri Arbeit het sech glohnt: En Ärntesäge wunderbar Het tröi dr Bode bracht dür ds Jahr! Drum danket still bim Wiehnachtsglüt Em lieb Gott und de Burelüt Und allne wo mit Chopf und Hand Hei gwürkt und gwacht für Volk und Land!»

Vielen Dank!

Adolf „Dölf“ Ogi
Adolf „Dölf“ Ogi
a. Bundesrat (BE)
 
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