Aussenbeziehungen: Der Bundesrat kuscht vor fremden Staaten

In der Aussenpolitik erteilt die Bundesverfassung dem Bundesrat einen einfachen und klaren Auftrag: „Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt"…

Yves Nidegger
Yves Nidegger
Nationalrat Genf (GE)

In der Aussenpolitik erteilt die Bundesverfassung dem Bundesrat einen einfachen und klaren Auftrag: „Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt“ (Art. 54 Abs.2), was bereits Art. 2 (Zweck der Eidgenossenschaft) festhält: „Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes“.

Das Handeln des Bundesrates muss somit an den Resultaten gemessen werden, die erzielt werden, um einerseits die Unabhängigkeit der Schweiz und andererseits ihre Wohlfahrt zu stärken, und dies unter Respektierung der Volksrechte, das heisst der effektiven Ausübung der direkten Demokratie. Der amtierende Bundesrat wurde im Dezember 2007 gewählt. Die Frage muss demnach lauten: Ist die Schweiz von heute

  • unabhängiger oder weniger unabhängig als die Schweiz im Dezember 2007?
  • geht es ihr wirtschaftlich besser oder weniger gut als im Dezember 2007?
  • war das Schweizervolk freier oder weniger frei als im Dezember 2007, um seinen Willen direkt auszudrücken?

Ich könnte mein Referat hier schliessen, denn jeder von uns kann selber feststellen, dass seit Dezember 2007

  • die Schweiz auf spektakuläre Weise an Unabhängigkeit eingebüsst hat;
  • der Bundesrat keinerlei Widerstand leistete gegenüber ausländischen Staaten, die mit Erfolg die Grundfesten unserer Wohlfahrt attackierten;
  • die Classe politique aktiv war im Untergraben der Volksrechte, indem sie das Volk hinderte, sich frei über internationale Abkommen zu äussern.

Wir kennen die Episoden, über die die Medien ausführlich berichteten und die uns beschämen und traurig machen, denn sie zeigen, dass der Bundesrat seinen Auftrag nicht versteht und nicht im Interesse des Schweizer Volkes handelt. Zur Illustration einige Beispiele:

  • am 19. März 2008 kniet die Schweiz vor der Republik Iran nieder: Frau Calmy-Rey zeigt sich vor den Medien in einen islamischen Schleier gehüllt, der die Mullahs ermuntern sollte, im Erdgasgeschäft die europäischen Interessen zu berücksichtigen (es ging um die Unterzeichnung eines Liefervertrages für Italien).
  • am 19. Juli 2008 werden zwei unschuldige Schweizer in Tripolis als Geiseln genommen, womit zwei schweizerische Unternehmen in Libyen in den Ruin getrieben werden. Dies weil Frau Calmy-Rey, die immer Recht hat, den Gedanken zurückweist, dass ihre kleinen Genfer Genossen sich in der Affäre Hannibal wie Elefanten benommen haben (seit dem Völkerbund im Jahr 1918 weiss Genf bestens mit Klagen gegen Familienmitglieder von Regierenden umzugehen, ohne eine internationale Krise auszulösen). Im Fall Gaddafis ist es dem stellvertretenden Staatsanwalt und dem Staatsrat, beides Sozialdemokraten, gelungen, eine grössere und andauernde Krise mit einem wichtigen Erdöl- und Finanzpartner auszulösen, ohne dass es zu einer Strafanzeige kam (diese wurde ad acta gelegt!). Seither ist ein Jahr vergangen, und das EDA findet immer noch keine Lösung für ein einfaches Problem gemessen an andern Herausforderungen, mit denen das Land heute konfrontiert wird.
  • am 12. Dezember 2008 tritt in der Schweiz das Schengen-Abkommen in Kraft, das die Durchführung von Personenkontrollen an unseren Grenzen untersagt, und das gegen eine Rechnung von 140 Millionen CHF zu Lasten des schweizerischen Steuerzahlers;
  • am 11. Februar 2009 sabotiert eine Schein-Volksabstimmung die direkte Demokratie, indem das Schweizer Stimmvolk daran gehindert wird, sich zu einer Frage frei zu äussern, die sie beschäftigt, nämlich die Öffnung der Grenzen für Rumänen und Bulgaren;
  • am 6. März 2009 stimmen beide Parlamentskammern dem Cassis-de-Dijon-Prinzip zu, das der Schweiz ohne Gegenleistung untersagt, aus Europa importierte Produkte ihren Normen zu unterstellen;
  • am 6. März 2009 zeigt sich Frau Calmy-Rey hocherfreut, in Genf ihre Amtskollegin Hillary Clinton empfangen zu dürfen. Zur gleichen Zeit erklären uns die Amerikaner einen Wirtschaftskrieg mit dem Ziel, die schweizerischen Steuerpflichtigen zur Kasse zu bitten, um die Rechnung für die von ihnen, den Amerikanern, verursachten Subprime-Betrügereien zu bezahlen;
  • am 18. März 2009 strahlt Frau Calmy-Rey wie ein Schulmädchen, als sie in Paris den charmanten Minister Koucher küsst, derweil Frankreich dem Schweizer Finanzplatz den Krieg erklärt und sogar die Schweiz als souveränen Staat attackiert;
  • am 20. Mai 2009 verzichtet der Bundesrat darauf, die Schutzklausel gegen die übermässige Einwanderung von EU-Bürgern anzuwenden, während in der Schweiz die Arbeitslosigkeit explosionsartig ansteigt und die eingewanderten Arbeitnehmenden doppelt so häufig trifft als die schweizerischen Beschäftigten. Der vorgebrachte Grund: die Angst, unsere Nachbarn zu verstimmen.
  • am 31. Juli 2009 weilt Frau Calmy-Rey zu einem Staatsbesuch in Washington, und das zum Zeitpunkt, als die US-Regierung von der Schweiz verlangt, das Bankgeheimnis zu killen und die internationale Bankenkundschaft zu verraten;
  • am 10. August 2009 stimmt der Bundesrat einer Vereinbarung zu, die so schrecklich ist, dass man sie geheim halten muss. Sie erlaubt der UBS, Washington die Namen von mehreren tausend ihrer Kunden herauszugeben, und das ausserhalb eines Rechtshilfeverfahrens. So entsteht ein Präzedenzfall für den automatischen Informationsaustausch, den die Vereinigten Staaten und die EU von uns fordern.
  • Die krampfhaften Bemühungen des Bundesrats, das Gegenteil zu beteuern, sind umsonst: Mit der Herausgabe der Namen ihrer Kunden wird die schweizerische Grossbank den harten Kern des Bankgeheimnisses liquidieren und das Herz des Vertrauensvertrages verraten, der bis heute die Beziehung zwischen den Schweizer Bankiers und ihren Kunden begründete. Indem der Bundesrat einem solchen Manöver zustimmt (vielleicht um der UBS einen Zivilprozess zu ersparen), liefert er alle andern Banken der gleichen Behandlung aus und verzichtet einseitig auf die Respektierung der Souveränität der Schweiz durch andere Staaten.
  • Es wird am Schweizervolk sein, das (gekillte, aber noch nicht begrabene) Bankgeheimnis wieder aufleben zu lassen, indem es in der Verfassung festgeschrieben wird: um dem Bundesrat zu verbieten, es als Lösegeld einzusetzen.

Unabhängigkeit und Wohlfahrt: Es ist kein Zufall, dass die Bundesverfassung in weiser Voraussicht beide Begriffe im gleichen Artikel (54 Absatz 2) verbunden hat. Sie sind in der Tat eng miteinander verknüpft, wie uns die Krise in Erinnerung ruft.

Die Geschichte macht es deutlich: Wenn ein Volk vor der schmerzlichen Wahl steht, entweder den Verlust des Brotes oder der Freiheit zu riskieren, verlieren jene, die lieber auf die Freiheit verzichten, meistens auch das Brot, und das an einen Mächtigeren; jene, die sich für die Freiheit entscheiden, erhalten meistens noch das Brot dazu, weil sie immer noch Meister ihres Schicksals sind.

Mit dem Verzicht auf die Unabhängigkeit der Schweiz wird der Bundesrat das Land in die Armut treiben. Das ist allen klar ausser dem Bundesrat, der handelt, als wären die direkte Demokratie eine populistische Gefahr, unsere Grenzen ein archaisches Relikt, das es schnellstens auszulöschen gilt, und die Unabhängigkeit des Landes ein Hindernis für das Wirtschaftswachstum.

Wie die Freisinnigen im 19. Jahrhundert scheint der Bundesrat besessen von der Idee, die Grenzen verschwinden zu sehen. Er realisiert nicht, dass im 21. Jahrhundert die Völker mit der Verwischung der politischen Grenzen unter dem Druck einer globalisierten Wirtschaft zunehmend das Bedürfnis nach lokaler und nationaler Verwurzelung verspüren. Er realisiert nicht, dass die Völker heute alle davon träumen, wie das Schweizer Volk mit dem Föderalismus und der direkten Demokratie über politische Hebel zu verfügen, die in der Lage sind, sie vor den rohen Winden der Globalisierung zu schützen.

Das Fehlen einer politischen Vision des Bundesrates lähmt die Schweiz. Dieser sieht nicht, dass sich die Welt verändert hat. Mit der amerikanischen Finanzkrise ist 2008 eine 20-jährige Periode zu Ende gegangen, die mit dem Fall der Berliner Mauer und der Konkursanmeldung in Moskau begann. Dazu das Auftauchen einer einzigen Supermacht, welche die Globalisierung der Wirtschaft befürwortet. Die amerikanische Krise, die eine Krise der Globalisierung ist, macht einer andern Welt Platz: einer multipolaren, durch das Aufeinanderprallen der Zivilisationen geteilten Welt.

Der Schweiz bleiben zwei Optionen. Entweder schliesst sie sich der Europäischen Union an, einem der politischen Pole dieser neuen Welt, und löst sich auf, denn die EU kann sich weder mit dem Föderalismus noch mit der direkten Demokratie belasten, die unsere gemeinsame schweizerische Kultur ausmachen. Das ist die Option des Bundesrates: auf unsere Souveränität verzichten und verschwinden.

Oder sie macht, was wir in der Vergangenheit immer zu tun verstanden: sie erfindet einen schweizerischen Weg, welcher der neuen Welt angepasst ist. Das heisst, sich politisch als neutraler und souveräner Staat positionieren in einer multipolaren Welt, in der die Schweiz vier oder fünf rivalisierenden Blöcken Leistungen anbieten kann, die mit ihrem Auftrag übereinstimmen, Leistungen also, die allen etwas bringen und die kein anderer Akteur der internationalen Szene erbringen kann. Wie das schon in anderen Perioden der Geschichte der Fall war. Zum Beispiel während des Kalten Krieges, als die Schweiz von 1945 es verstand, ihre relative Isolation bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als Wettbewerbsvorteil zu nutzen: die Neutralität in einer zweigeteilten Welt. Wir haben aus dieser Positionierung heraus eine erkennbare und wirksame Aussenpolitik betrieben, nützlich für die Welt und wirtschaftlich vorteilhaft für die Schweiz. Diese Politik hatte Bestand, bis der Mauerfall einer andern Welt Platz machte.

Um die Fortsetzung zu erfinden, bräuchte es einen Bundesrat, der aus Personen mit einer zeitgemässen politischen Vision und einer echten Verbundenheit mit der schweizerischen Geschichte besteht. Im EDA ist davon nichts zu spüren.

Yves Nidegger
Yves Nidegger
Nationalrat Genf (GE)
 
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