Bedrohungslage im Jahre 2004

Divisionär a D Hans Bachofner, Uitikon-Waldegg (ZH)

Betrachtung von 3 Seiten :

1. Wehrlose Schweiz.
Bedrohung durch Ahnungslosigkeit und mangelndes Vorstellungsvermögen.

2. Massaker statt Schlachten.
Neue Kriegsbilder, neue Bedrohungsformen

3. Die Schweiz wird nicht am Hindukusch verteidigt.
Die Frage nach dem Ort der Bedrohung.

1. Wehrlose Schweiz

In ihrem Bericht über die Anschläge vom 11.9.2001 kommt die Untersuchungskommission des amerikanischen Kongresses zum Schluss :
– wir waren wehrlos und unvorbereitet. Die Verantwortungen waren nicht klar geregelt. Die Regierung hat in ihrer wichtigsten Aufgabe, das Volk zu schützen, versagt. Das Parlament hat in seiner Aufsichtspflicht versagt. Nachrichtendienste, Einwanderungs- und Luftfahrtbehörden und Grenzschutz versagten.
– Der Staat mit den stärksten Streitkräften der Weltgeschichte, mit denen er die Meere, den Luftraum, den Weltraum zu beherrschen glaubte, war in Wirklichkeit wehrlos.
– Der Bericht beschreibt in Einzelheiten das Versagen der Politik vor dem 11.9., das Versagern der Führung am 11.9. und die fehlenden Fähigkeiten der verantwortlichen Instanzen. Hauptursache über allen andern war das mangelnde Vorstellungsvermögen. Wir haben das Ausmass der Bedrohungen, die über die Jahre hinweg herangewachsen waren, nicht erkannt.

Am Abend des Massakers an Schulkindern in Beslan trat der russische Präsident Putin vor die Kameras und sagte: Wir haben die drohende Gefahr nicht richtig erkannt. Auf jeden Fall konnten wir nicht richtig reagieren. Wir müssen ein viel wirkungsvolleres System schaffen. Unsere Kräfte müssen der Grössenordnung der neuen Bedrohungen entsprechen. Wir brauchen eine wirkungsvollere Führung im Krisenfall. Wir zeigten Schwäche und der Schwache wird bestraft.

Wir Schweizer sind nicht weniger wehrlos als die Militärgiganten USA und Russland. Auch wir verkennen die Gefahr, beschäftigen uns mit Ladenhütern aus den friedens-euphorischen 90er Jahren, verzetteln unsere Kräfte. Auch uns fehlt es an modernen Szenarien und angemessenem Bedrohungsbewusstsein. Wir haben die Organisation der Gesamtverteidigung zerfallen lassen. Überall sind einzelne Ämter und Organisationen am Werk, aber es fehlt die eingespielte Führung auf der entscheidenden obersten Stufe.

2. Massaker statt Schlachten.

Wir sind eingetreten in eine radikal veränderte Sicherheitslandschaft, deren Kennzeichen Terrorismus, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und gescheiterte Staaten sind. Das modische Schlagwort „Asymmetrische Kriegführung“ wird nicht richtig verstanden.

Symmetrische Kriege sind Kriege unter Gleichartigen. Streitkräfte in Uniformen, ka-serniert, diszipliniert, durch Kriegsrecht gebändigt, suchen die Entscheidungsschlacht. Symmetrische Kriege gleichen dem Duell. Die Chancen, zu töten und getötet zu werden, sind ähnlich. Diese Kriege haben ein Ende mit ritualisierten Formen des Waffenstillstandes und Friedensschlusses.

Asymmetrische Kriege, wie sie das 21. Jahrhundert prägen, meinen Gewalt unter Ungleichen. Nicht David gegen Goliath, nicht unterschiedliche Quantität, sondern unterschiedliche Qualität sind ihr Merkmal. Die Zivilbevölkerung ist Angriffsziel. Massaker an Schulkindern, Theaterbesuchern und Hotelgästen ersetzen die Schlachten. Selbstmordattentate, Entführungen und Enthauptungen vor laufender Kamera kennen kein Völkerrecht. Der Feind ist unsichtbar, oft unbekannt, „ein Netz“.

Zeit und Raum, die Grundelemente aller Strategie haben eine völlig neue
Bedeutung: In den bekannten symmetrischen Kriegen trachtete man darnach, die Kampfhandlungen zeitlich und räumlich zu beschränken. Die neuen asymmetrischen Kriege kennen keine Grenzen und kein Ende. Al Qaida schlägt weltweit zu, die Kriege der Warlords in Afrika finanzieren sich selbst und können ewig dauern.

Die Folgen für die Weltpolitik sind dramatisch. Die Institutionen sind ratlos. Die UNO versteht sich als ein System von verantwortlichen Staaten mit funktionierendem Ge-waltmonopol. Dem entstaatlichten Krieg ohne völkerrechtlich fassbare Akteure begegnet sie hilflos.

Die imperial auftretende Weltmacht USA ist mit ihrer neuen strategischen Doktrin in Afghanistan wie im Irak gescheitert, vor allem nachrichtendienstlich. Der Anschluss an die Schutzmacht USA hat seinen gestrigen Glanz verloren. Die strategischen Atomwaffen sind noch Restposten aus der Zeit der symmetrischen Kriege. Die Rumsfeld-Doktrin von High-Tech-Streitkräften mit kleinen Beständen wird korrigiert.

Es gibt keinen Grund, der alten Zeit der symmetrischen Kriege nachzutrauern, sie brachte unsägliches Leid über die Menschheit. Aber wir haben allen Grund, unsere eigenen Verwundbarkeiten zu prüfen, Umschau zu halten, wer uns wo was antun könnte und eine neue Doktrin auf strategischer, operativer und taktischer Stufe zu entwickeln und anzuwenden. Hysterie ist so wenig angebracht wie Vernachlässigung und gemütliche Verwaltung der Mängel der Armee XXI.

2 Stichworte müssen genügen: Der Kleinstaat braucht im asymmetrischen Krieg – im Gegensatz zur Grossmacht – eine defensive Strategie und eine operativ/taktische Doktrin der Redundanz, der Überlappung, der Dezentralisierung. Terroristen schlagen dort zu, wo wir am verwundbarsten sind, wo wir mit einem Schlag gelähmt werden können. Landesverteidigung erhält ein neues Gesicht. Wir sind zur Zeit auf dem falschen Weg.

3. Die Schweiz wird nicht am Hindukusch verteidigt.

Was in den 90er Jahren als humanitäre Militärintervention gedacht war, die Verhinderung von Völkermord z.B., hat längst eine Eigendynamik entwickelt und ist ausser Kontrolle geraten. Mit Militär soll nun nation building betrieben werden. Die Versuche stecken weltweit in der Sackgasse. Darfur steht für die neue Zurückhaltung, der Irak für das Scheitern, Afghanistan für die wachsenden Zweifel. Der Aufbau von gescheiterten Staaten in fremden Kulturen mit Hilfe des Militärs ist kaum zu bewältigen. Die militärischen und zivilen personellen Mittel fehlen, wie auch die finanziellen. Der Wille der Völker zuhause erlahmt bald einmal.

Auch die Schweiz hat eher peinliche Erfahrungen mit gut gemeinten Auslandeinsät-zen der Armee: Namibia (Krieg fand nicht statt), Westsahara (Abstimmung fand nicht statt), Löschhelikopter in Portugal (Feuer schon gelöscht) und vor allem bei den März-Unruhen im Kosovo. Regierung, militärische Führung und Nachrichtendienste haben offensichtlich versagt. Die beteiligten Wehrmänner sind kaum zu tadeln, wohl aber die Verantwortungsträger. Die Abrechnung hat in der Schweiz noch nicht stattgefunden. In andern Ländern ist zu diesem Thema die Rede von hemmenden Einsatzregeln, fehlenden Krisenplänen, nicht abgestimmter Zusammenarbeit von KFOR und UNO, Unkenntnis der Verantwortlichkeiten, unzureichenden Fähigkeiten in multinationalen Stäben, fehlenden Reserven, falschen Kräfteverhältnissen zwischen Kampftruppen und Unterstützungstruppen, ungenügendem Nachrichtenddienst, Defiziten in der mentalen Einstellung in Bezug auf die latente Bedrohung.

Militäreinsätze dürfen nicht zum Ersatz für Politik werden. Stabilisierung ist kein Selbstzweck: sie muss politische Lösungen ermöglichen. Die fehlen zurzeit überall, wo Schweizer Militär in Langzeiteinsätzen steht. Unabhängige Beobachter vor Ort melden aus Afghanistan wie aus dem Kosovo, dass die Bevölkerung nichts mehr wünscht, als den Abzug fremder Truppen, auch der Schweizer also.

Eine deutsche Stimme: „Wir sehen seit dem Jugoslawienkrieg, dass die Dinge, die wir angefangen haben, sich politisch als unlösbar herausgestellt haben. Das dürfe nicht dazu führen, dass wir auf Jahrzehnte immer mehr in militärische Dinge hineingezogen werden, ohne dass etwas in Bewegung gerät. Die Auslandeinsätze drohten zu Fässern ohne Boden zu werden. Das ganze deutsche Engagement drohe, aus dem Ruder zu laufen.

Militärisch zu schützende Schweizer Interessen in Afrika, im Nahen Osten, im Kaukasus, im Zentralasien ? Überall sind wir interessiert. Als Kleinstaat sind wir weder in der Lage noch verpflichtet, weltweit militärisch für Ordnung zu sorgen. Als Mitläufer anderer, die ihre eigenen Interessen verfolgen, haben wir keinen Platz.

Unsere Verwundbarkeiten liegen in der Schweiz selbst. Hier sind die neuen asym-metrischen Kriege zu führen. Hier sind unnötige Schwachpunkte zu vermeiden und nötige zu schützen. Hier ist eine reibungslose Führung im Ereignisfall einzutrainieren, hier sind Verantwortungen, Kompetenzen und Dienstwege zu klären. Hier sind alle Mittel, die intellektuellen, finanziellen und personellen zu konzentrieren. Der netzartig operierende Feind des 21. Jahrhunderts ist nicht lokalisierbar im Ausland. Er hat eine neue Qualität. Vielleicht ist er schon da. Auch in Madrid konnte man sich das Grauen der Anschläge nicht vorstellen.

 
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