Die geografische Lage des Kantons Genf ist insofern speziell, als der Kanton praktisch eine Enklave in Frankreich bildet. Er hat mit Frankreich – deshalb auch mit der EU – eine gemeinsame Grenze…
Nationalrat Jacques Pagan, Genf
Genf und seine besondere geografische Situation
Die geografische Lage des Kantons Genf ist insofern speziell, als der Kanton praktisch eine Enklave in Frankreich bildet. Er hat mit Frankreich – deshalb auch mit der EU – eine gemeinsame Grenze von 104 km. Die Grenze zum Kanton Waadt ist dagegen nur gerade 4,5 km lang. Es war denn auch der Kanton Genf, der die Umwälzungen der Bilateralen I vom 1. Juni 2002 und vor allem jene des zweiten Teils vom 1. Juni 2004 zu spüren bekam. Mit dem zweiten Paket wurde insbesondere der Prioritätsgrundsatz bei der Anstellung Einheimischer (Schweizer, Aufenthaltsbewilligung C und B) aufgehoben.
Die Bilateralen Abkommen bedeuten mehr Unsicherheit für Genf
Seither stellen wir in Genf eine starke Zunahme der Zahl von Stellensuchenden und Arbeitslosen fest, während gleichzeitig die Zahl der Grenzgänger und der kontingentierten Arbeitnehmer aus dem EU-Raum markant ansteigt. Diese Entwicklung hat die einheimische Bevölkerung schockiert und schockiert sie noch immer. Sie kann nicht verstehen, dass Arbeitsplätze an Neuzuzüger aus dem EU-Raum vergeben werden, die bei gleichem Leistungsausweis prioritär Schweizern oder seit längerer Zeit in Genf niedergelassenen Ausländern angeboten werden sollten. Die Lage ist ernst, weil die Arbeitssicherheit durch das Ausmass des unerwünschten Zustroms an Arbeitskräften aus dem EU-Raum nicht mehr gewährleistet ist. Die tieferen Löhne und die im allgemeinen tieferen Sozialkosten – die Neuzuzüger sind in den meisten Fällen recht jung – stellen für einen Arbeitgeber unbestreitbar einen Vorteil und damit auch eine Verlockung dar. Die Begleitmassnahmen zur Bekämpfung des Lohndumpings sind nicht in der Lage, daran etwas zu ändern.
Ich kenne zahlreiche Personen, die gegenwärtig eine Anstellung suchen. Ihre Aufgabe ist umso schwieriger, als die konjunkturelle Lage ungünstig ist und sich die Staatsfinanzen in einem katastrophalen Zustand befinden (offiziell mehr als 13 Milliarden Schulden) und damit die Gesamtwirtschaft des Kantons belasten. Ihre Aufgabe ist angesichts der Konkurrenz aus dem EU-Raum unterdessen zu einem Ding der Unmöglichkeit geworden. Die Neuzuzüger machen sich nicht nur auf dem Markt für freie Stellen breit, sondern beanspruchen auch jene Arbeitsplätze, die von Firmengründern aus dem EU-Raum geschaffen werden.
Es liegt auf der Hand, dass die Unsicherheit auf dem Genfer Arbeitsmarkt durch die Bilateralen Abkommen, insbesondere durch das Abkommen bezüglich des freien Personenverkehrs, wesentlich grösser geworden ist.
Genf ist der Schweizer Kanton mit der höchsten Arbeitslosenquote: 7,5 Prozent bei einem schweizerischen Mittel von 4 Prozent. Während die den Arbeitslosen angebotenen Teilzeitjobs unbefriedigend sind und durch effiziente Massnahmen zur Umschulung und Wiedereingliederung ins Wirtschaftsleben ersetzt werden sollten, drohen die Auswirkungen der Bilateralen Abkommen diese Bemühungen zunichte zu machen. Zur erwiesenen wirtschaftlichen Unsicherheit gesellt sich im Hinblick auf die Zukunft ein noch stärkeres Gefühl der Unsicherheit, das geprägt wird von der in den Bilateralen Abkommen vorgesehenen, noch weiter gehenden Liberalisierung des Arbeitsmarktes.
Diese tiefe Verunsicherung wird noch verstärkt durch die mangelnde offizielle Information über die genaue Entwicklung der tatsächlichen Lage.
Ist es zuviel verlangt, eine objektive Bilanz über die Auswirkungen der Bilateralen Abkommen zu verlangen?
Die SVP bedauert zutiefst, dass bis zur Stunde noch keine erste seriöse und unparteiische Bilanz über die Vor- und Nachteile der Bilateralen Abkommen gezogen worden ist. Sind die Behörden dazu nicht fähig oder weigern sie sich die Wahrheit zu sagen aus Angst, dass das von der Bevölkerung in die Bilateralen Abkommen gesetzte Vertrauen und allgemein in die um jeden Preis angestrebte engere Anlehnung an die EU durch eine mehrheitlich negative Bilanz über die tatsächlichen Auswirkungen erschüttert werden könnte?
Auf Bundesebene wie auf der Ebene des Kantons Genf kann die vom Integrationsbüro vorgebetete Propaganda in keinem Fall als wissenschaftliche Basis für eine solche Bilanz heran gezogen werden. Die Werbebotschaft, die von den Steuerzahlern dieses Landes finanziert wird – auch von jenen, die von der Sache nicht überzeugt sind -, ist jene des EU-Beitritts der Schweiz, des vom Bundesrat offen angestrebten Endziels.
Beunruhigende Situation in Genf
In Genf ist die SVP sehr beunruhigt über die Entwicklung auf Kantonsebene. Der Staatsrat (Regierungsrat) hat den Grossen Rat (Kantonsparlament) zweimal über die Auswirkungen der Bilateralen auf die Wirtschaft, die Finanzen und den lokalen Arbeitsmarkt informiert, das erste Mal am 22. Mai 2002 mit dem voluminösen Bericht RD 444 und das zweite Mal im Januar 2005. Der Staatsrat hielt sich dabei an die regionale, grenzüberschreitende und europäische Politik (RD567). Beide Berichte gehen jedoch die Frage der von den Bilateralen Abkommen ausgelösten Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt nicht direkt an, sondern begnügen sich damit, die Begleitmassnahmen zu erläutern. Aufschlüsse über deren Auswirkungen sind in den Berichten allerdings nicht zu finden.
Vorgängig zum zweiten Bericht hat unsere Kantonssektion in einer vom Fraktionschef der SVP im Genfer Grossen Rat, Gilbert Catelain, verfassten dringlichen schriftlichen Interpellation (IUE 101-A) den Staatsrat aufgefordert, die Auswirkungen der Bilateralen Abkommen auf die Bevölkerungsstruktur sowie auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den Jahren 2003 und 2004 zu erläutern. In seiner Antwort räumte der Staatsrat ein, dass es „noch zu früh sei“, um die Auswirkungen der zweiten Etappe des Abkommens über den freien Personenverkehr vom 1. Juni 2004 und insbesondere die verstärkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt genau einzuschätzen.
Die Bemühungen der SVP auf eidgenössischer Ebene wie auf dem Niveau des Kantons Genf, mehr über die Vor- und Nachteile der Bilateralen I zu erfahren, prallen an einem höflichen, vielleicht sogar etwas genierten, aber umso entschlosseneren Schweigen jener Behörden ab, die für deren Anwendung verantwortlich sind. Um es zusammenfassend auszudrücken: Es ist noch zu früh, um Genaueres über die Auswirkungen der Bilateralen I zu wissen, aber nicht zu spät, um sofort die Bilateralen II , das Schengen/Dublin Abkommen sowie das Zusatzprotokoll anzunehmen. Es scheint ja auch nichts auszumachen, dass man die Auswirkungen auf die aus den Bilateralen I entstandene Situation nicht kennt, die ihrerseits ja auch nicht bekannt ist.
Wenn die Kunst der Regierens darin besteht, voraus zu schauen, müssen wir daraus den Schluss ziehen, dass die Regierung nicht mehr regiert. Darüber können sich zahlreiche, eingefleischte Liberale nur freuen. Es ist ja bestens bekannt, dass die beste Regierung jene Regierung ist, die überhaupt nicht regiert.
Die Sicherheit im weitesten Sinn
Der Begriff Sicherheit erstreckt sich auch auf andere Bereiche und nicht nur auf jenen des Arbeitsmarktes. Es gibt da etwa die Ernährungssicherheit, die soziale Sicherheit, die Sicherheit im Strassenverkehr, die Umweltsicherheit, die militärische Sicherheit, die Beziehungssicherheit zwischen verschieden- und gleichgeschlechtlichen Partnern usw. Ich würde Sie schwer enttäuschen, wenn ich nicht kurz auf die Personen- und Gütersicherheit in Genf im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten der Bilateralen Abkommen zu sprechen käme. Ein paar kurze Worte reichen aus, weil von diesem Thema in keinem der zwei erwähnten Berichte jemals die Rede ist. Es gibt also seitens der Genfer Regierung zu diesem Thema keine Informationen. Auch hier: Wurde das Thema schlichtweg vergessen oder wohlweislich verschwiegen?
Dagegen lehrt uns der Tätigkeitsbericht der Genfer Polizei, dass die Bilateralen Abkommen am Ursprung einer deutlichen Zunahme der Zahl der Prostituierten, vornehmlich aus Frankreich, sind. Die Sittenpolizei sah sich gar gezwungen, eine Ad-hoc-Gruppe für eine verstärkte Kontrolle des Strassenstrichs und der Nachtlokale ins Leben zu rufen. Die gleichen Abkommen sind ebenfalls die Ursache einer markanten Zunahme (plus 58 Prozent) der Fälle von Landstreicherei, Betteln und illegalen Strassenverkaufs. Diese Zunahme geht zu einem guten Teil auf das Konto von rumänischen Staatsangehörigen. Zu jedermanns Verblüffung hatte der Bundesrat im Frühjahr 2004 den Visumszwang für rumänische Staatsangehörige aufgehoben. Ich habe seinerzeit meine Verwunderung darüber in einer schriftlichen Anfrage ausgedrückt, darauf aber vom Bundesrat nur eine unbefriedigende Antwort erhalten.
Im Tätigkeitsbericht 2004 des Grenzwachtkorps ist festgehalten, dass die Situation an den Grenzübergängen nach wie vor kritisch ist und die Personalbestände immer noch zu knapp sind. Demgegenüber stellt der Bericht keinen direkten Zusammenhang zwischen der Umsetzung der Bilateralen Abkommen und der Zunahme von Gesetzesübertretungen (illegale Grenzüberschreitung, Sicherstellung von Drogen usw.) her.
Abgesehen von den erwähnten Fällen gibt es keine statistischen Elemente, an denen sich die Entwicklung der Unsicherheit, verursacht durch die Umsetzung der Bilateralen Abkommen, messen liessen. Die Genfer Polizei ist sich allerdings durchaus bewusst, dass der wachsende Zustrom von Bürgern aus dem EU-Raum zweifellos einen Einfluss auf die Entwicklung der Kriminalität in Genf, also auf die Sicherheit im allgemeinen, haben wird.
Ein bisschen mehr Klarsicht unserer Behörden gegenüber der EU
Aus dem bisher Festgestellten können wir nur den Schluss ziehen, dass die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt für einen nicht zu unterschätzenden Teil der Arbeitnehmer des Kantons Genf zur traurigen Tatsache geworden ist. Diese Entwicklung geht zu einem wesentlichen Teil auf das Konto der Bilateralen Abkommen. Die Begleitmassnahmen beschränken sich zur Erleichterung der Abläufe auf das Begleiten dieser Entwicklung, können diese aber nicht bremsen, ohne die Abkommen ihrer Substanz zu berauben. Das Fehlen einer statistischen Sicht dieser Realität sowie deren voraussehbaren Entwicklung ist der Nährboden für eine tiefere Verunsicherung, was die wirtschaftliche Zukunft für einen breiten Bevölkerungsteil des Kantons Genf sowie für die allgemeine Entwicklung des Kantons betrifft.
Diese Entwicklung verlangt von unseren Behörden, dass sie ihre blinde Götterverehrung gegenüber der Europäischen Union endlich aufgibt. Die EU ist unbestreitbar ein unumgehbarer Wirtschaftskoloss, ein Koloss aber, dessen institutionelle Struktur zumindest zerbrechlich und unvollendet ist.
Die Bilateralen I sind da und die Bilateralen II folgen ihnen auf dem Fuss. Wie der Volksmund sagt, werden wir wohl oder übel damit leben müssen. Dieser neue Weg, den wir eingeschlagen haben, um den drohenden Beitritt zur EU noch etwas hinaus zu schieben, wird zumindest ein steiniger Weg sein. Damit dieser Beitritt unter möglichst günstigen Bedingungen erfolgen kann, müssen sich unsere Behörden endlich dazu durchringen, die Bevölkerung vollständig und wahrheitsgemäss über die Gesamtheit der positiven und negativen Folgen dieses schicksalsschweren Schrittes zu informieren. Nur unter dieser Voraussetzung, dass heisst, in voller Kenntnis aller Einzelheiten der Abkommen und deren Auswirkungen, können wir uns auf das grosse Rendez-vous von 2009 – Festhalten oder Ausscheiden aus den Bilateralen Abkommen – vorbereiten. Das gilt für Genf wie für unser ganzes Land.