Ohne Sicherheit keine Freiheit

Ende August hat eine Studie zur Kriminalität kurz für Aufsehen gesorgt. Die Schweiz habe jetzt bei der Kriminalität europäisches Niveau erreicht, meldeten die Medien. Mit dieser Wortwahl ist die…

Ueli Maurer
Ueli Maurer
Bundesrat Wernetshausen (ZH)

Ende August hat eine Studie zur Kriminalität kurz für Aufsehen gesorgt. Die Schweiz habe jetzt bei der Kriminalität europäisches Niveau erreicht, meldeten die Medien. Mit dieser Wortwahl ist die schlechte Nachricht schon fast zum Erfolg umformuliert worden: „Wir sind jetzt nicht mehr allein und einsam an der Spitze, sondern bei den andern gut aufgehoben.“

Mich hat die Meldung schockiert. Denn da steht viel dahinter:

Zuerst einmal das Leid der Opfer. Wir dürfen nicht vergessen, wofür die statistischen Daten stehen: Hinter den Zahlen verbergen sich menschliche Schicksale. Wer mit Gewaltopfern spricht, der weiss, dass diese oft auch Jahre nach der Straftat noch an den Folgen leiden.

Die steigende Kriminalität hat aber noch eine andere, eine staatspolitische Dimension. Darauf möchte ich näher eingehen:

Wenn die Schweiz auf europäisches Mittelmass absinkt, ist der Staat offenbar seiner wichtigsten Aufgabe nicht mehr gewachsen. Das muss zu denken geben. Überlegen wir uns einmal, was das genau heisst:

Geben und Nehmen als Gesellschaftsvertrag
Es geht dabei ums ganz Grundsätzliche. Wir können zwei Menschenbilder und zwei Staatstypen unterscheiden.

Nach der einen Vorstellung ist der Mensch ein rechtloses Subjekt, das einer Regierung zudienen muss; ein kleines Rädchen in einer grossen Maschinerie. Der Einzelne ist nichts, der Staat ist alles. So funktionieren autoritäre Obrigkeitsstaaten. Wir kennen sie als absolutistische Monarchien, als braune oder rote Diktaturen auch aus der europäischen Geschichte.

Nach der andern Auffassung ist der Mensch frei. Er ist nicht Untertan, sondern Bürger. Das ist das Gedankengut der Aufklärung. Schiller hat es in den Worten zusammengefasst: „Frei ist der Mensch, und wär‘ er in Ketten geboren.“ Diese Auffassung liegt auch unserem Staat zugrunde.

Wir glauben an den freien Menschen, der sein Leben selbst gestalten kann. Nicht der Staat bestimmt über die Lebensziele, sondern jeder von uns selbst.

Der freiheitliche Staat hat keine weltpolitische oder religiöse Mission, der das Leben und Streben der Menschen unterzuordnen ist. Der Zweck des freiheitlichen Staates ist die Freiheit seiner Bürger. Nichts anderes. Darum hat der Staat vor allem einen Auftrag: Sicherheit zu gewährleisten, um so die Freiheit zu schützen.

Nur damit der Staat unsere freiheitliche Ordnung im Gesamten erhalten kann, sind wir im Einzelnen bereit, eine kleine Tranche unserer persönlichen Freiheit abzugeben. So erhalten wir eine Ordnung, die uns die Freiheit auf Dauer garantiert. Dafür akzeptieren wir eine gewisse Einschränkung unserer Freiheit durch notwendige Gesetze.

Dafür geben wir dem Staat etwas ab von dem, was wir uns hart erarbeiten und bezahlen Steuern, Abgaben und Gebühren.

Dafür leisten viele von uns Militärdienst. In unserer Milizarmee investieren Frauen und Männer ihre wertvolle Zeit in die Sicherheit unseres Landes.

Gesetze, Steuern, Militärdienst – das ist für den Einzelnen immer ein gewisser Freiheitsverzicht. Und als Gegenleistung erwarten wir vom Staat, dass er uns schützt, dass er uns die Sicherheit von Leib, Leben und Eigentum garantiert.

Wir können es so ausdrücken: Die freiheitliche Gesellschaft gründet auf einem Handel zwischen Bürger und Staat, auf einem Gesellschaftsvertrag mit Geben und Nehmen. Das ist die Grundidee des modernen, freiheitlichen Rechtstaates.

Darum sind wir mit der Sicherheitsdiskussion sofort bei den Staatsgrundsätzen. Und darum ist die steigende Kriminalität auch aus staatspolitischen Gründen alarmierend. Letztlich geht es um das Verhältnis von Bürger und Staat; um das Gleichgewicht von Geben und Nehmen, auf dem unser Staat beruht.

Bedrohtes Gleichgewicht
Wie in vielen modernen, westlichen Staaten geht dieses Gleichgewicht auch bei uns verloren: Die grosse Mehrheit der Bürger hält ihre Seite des Vertrages gewissenhaft ein. Sie kommt allen Verpflichtungen nach, leistet Militärdienst, übernimmt sogar freiwillig Milizfunktionen, hält sich an die Gesetze und zahlt Steuern.

Aber gleichzeitig gibt es eine wachsende Zahl von Leuten, die selbst keinen Beitrag leisten, keine Verantwortung für sich übernehmen, dafür aber umso mehr von den andern profitieren wollen.

Immerhin hat das Parlament in einem wichtigen Bereich diese Woche das Gleichgewicht wieder hergestellt: Bei der Armee. Die finanzielle Auszehrung der letzten Jahre hat dazu geführt, dass wir unsere Truppen nicht mehr richtig ausrüsten können. Diese so in einen Einsatz zu schicken, wäre unfair und verantwortungslos. Denn auch in der Armee muss das Verhältnis zwischen Geben und Nehmen stimmen: Von unseren Soldaten erwarten wir im Ernstfall, dass sie alles geben, sogar ihr Leben. Darum haben sie Anspruch auf die bestmögliche Ausbildung und auf die bestmögliche Ausrüstung. Mit den Mitteln, die jetzt das Parlament gesprochen hat, können wir nun unsere Soldaten wieder für ihre Aufgaben ange-messen ausrüsten.

Grundsätzlich aber hat auch der Staat ganz offensichtlich Mühe, seinen Teil der Verpflichtungen einzuhalten. Mit immer mehr Gesetzen, mit steigenden Steuern und Abgaben erhöht er die Verpflichtungen der Bürger. Selbst aber vernachlässigt er seine wichtigste Aufgabe, für die Sicherheit der Bürger zu sorgen, und bringt so die Freiheit in Gefahr.

Sicherheit als Fundament der Freiheit
Denn was nützen uns die in der Verfassung verbrieften Grundrechte, wenn sie im realen Leben nicht geschützt und durchgesetzt werden?

In der Verfassung haben wir eine Eigentumsgarantie. Es heisst: „Das Eigentum ist gewährleistet“. Aber was ist von dieser Garantie zu halten, wenn die Umverteilung immer mehr zunimmt und die Tüchtigen die Bequemen finanzieren müssen? Für die, die selbstverantwortlich ihren Lebensunterhalt bestreiten, stimmt das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen immer weniger.

In der Verfassung haben wir ein Recht auf Leben und persönliche Freiheit festgeschrieben. Es steht: „Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit“. Was nützt dieses schöne Freiheitsbekenntnis, wenn die Gewalt zunimmt; was nützt das Verfassungsbekenntnis zur Bewegungsfreiheit, wenn es Stadtquartiere gibt, die man in der Nacht meiden sollte?

In der Verfassung haben wir den Schutz der Kinder und Jugendlichen verankert. Diese haben Anspruch auf einen besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. Was nützt dieser hehre Grundsatz, wenn Gewalt auf dem Pausenplatz ein Problem ist?

So gerät für die Bürgerinnen und Bürger das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen aus dem Lot. Sie erbringen ihre Leistungen, aber die Gegenleistung erfolgt nicht mehr im erwarteten Sinne. In privaten Verhältnissen würde man von Leistungsversäumnissen oder von Schuldnerverzug sprechen.

Es ist an der Zeit, das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen wieder herzustellen. Und dazu ist ein Umdenken nötig. Immer noch werden die Beweggründe und Bedürfnisse des Täters mit viel wohlwollendem Verständnis ins Zentrum gestellt. Das Opfer dagegen ist einfach eine weitere Zahl in der Statistik. Wer Stra-fen und Konsequenzen fordert, gilt als rachsüchtig; wer eine zahnlose Justiz will, dagegen als modern und moralisch überlegen.

Sind wir uns eigentlich bewusst, was das heisst? Man vergisst die Opfer und kümmert sich um die Täter. Täterfreundlichkeit ist keine Menschenfreundlichkeit, sondern genau das Gegenteil.

Das Wohl der Schwachen
Mit dieser Täterfreundlichkeit verstösst die Politik gegen die moralischen Ansprüche, die sie sich vor nicht so langer Zeit in der neuen Bundesverfassung selbst gegeben hat. Ganz am Anfang der Verfassung, in der Präambel, steht, das Schweizervolk und die Kantone geben sich die Verfassung in der Gewissheit, „dass nur frei ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“

Die Freiheit gebrauchen kann nur, wer sicher ist. Und nirgends kann man das Wohl der Schwachen so gut messen wie an deren Sicherheit im Alltag. Menschlichkeit und Humanität drücken sich nicht im Verständnis für Straftäter aus, sondern im Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Anständigen.

Menschlichkeit heisst: Es setzt sich nicht der durch, der stärker, brutaler oder gewissenloser ist, sondern der, der Recht hat. Dem Ehrlichen muss gegen den Betrüger geholfen werden. Dem Unbeholfenen soll gegen den Durchtriebenen beigestanden werden. Ein kleines Kind oder ein gebrechlicher Rentner stehen auf Augenhöhe mit dem Kraftprotz oder Kampfsportler.

Der Einzelne, gleichgültig wie schwach, wie wehrlos und hilflos, braucht sich vor niemandem zu fürchten. Denn er muss sich nicht selbst verteidigen. Ihm steht der Rechtstaat zur Seite. Dafür hat dieser notfalls das Gewaltmonopol.

Das war der Fortschritt vom Faustrecht zum Rechtstaat. Diese Errungenschaft dürfen wir uns nicht nehmen lassen. Die Politik steht im Verzug. Denn die Bürgerinnen und Bürger erfüllen ihre Verpflichtungen, sie haben Anspruch auf die Gegenleistung, auf Sicherheit. Darum gehört die Schweiz nicht ins europäische Mittelfeld, sondern wieder zurück an die Spitze!

Ueli Maurer
Ueli Maurer
Bundesrat Wernetshausen (ZH)
 
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