Im Rahmen der Bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) nimmt das Tessin eine Risikostellung ein. Unser Kanton ist Nachbar einer der stärksten und dynamischsten…
Präsident SVP Tessin Paolo Clemente Wicht, Agno (TI)
Vor den Bilateralen I waren die Wirtschaft und die Finanzen unter Kontrolle
Im Rahmen der Bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) nimmt das Tessin eine Risikostellung ein. Unser Kanton ist Nachbar einer der stärksten und dynamischsten Wirtschaftsregionen der EU, der Lombardei. Diese Region im Norden Italiens hat es uns in der Vergangenheit ermöglicht, unseren Finanzplatz zu verstärken. Ein Grossteil der von unseren Banken verwalteten ausländischen Vermögen stammte aus Italien, vornehmlich aber aus der Lombardei. Auch allgemein wirtschaftlich gesehen, waren die Jahre1960 bis 1990 nicht zuletzt dank der Arbeit der italienischen Grenzgänger für uns profitable Jahre. Via Arbeitsbewilligungen, die vorab den Grenzgängern zugestanden wurden, haben wir den Arbeitsmarkt in Funktion der Konjunkturentwicklung und unserer besonderer Bedürfnisse steuern können. Das Gleichgewicht zwischen unseren Interessen und jenen unserer Partner aus der Lombardei war bis zum Inkrafttreten der Bilateralen Abkommen gewährleistet.
Seit dem 1. Juni 2004 geht’s bergab
Seit dem Inkrafttreten des freien Personenverkehrs, also seit dem 1. Juni 2004, hat sich die Situation radikal geändert. Seither hat jeder EU-Bürger das Recht, sich (mit seiner Familie) in der Schweiz nieder zu lassen, unter der Voraussetzung allerdings, dass er einen Arbeitsvertrag vorweisen kann. Das System der Arbeitsbewilligungen, das während Jahrzehnten so gut funktioniert hat, gewährleistet kein Gleichgewicht mehr. Die Risken für einen Grenzkanton wie das Tessin sind in Folge dessen entsprechend hoch. Die Löhne für die gleiche Art Arbeit sind in der Lombardei im Durchschnitt zwei bis drei Mal tiefer als im Tessin. Jeden Tag bewerben sich Hunderte wenn nicht gar Tausende italienische Arbeitnehmer um eine Stelle im Tessin. Allein auf meinen Bürotisch flattern wöchentlich vier bis fünf Stellengesuche. Die Zahl der italienischen Grenzgänger hat seit dem 1. Juni 2004 um 5 Prozent auf unterdessen 37 281 zugenommen. Diese Zahlen stammen vom Staatsrat des Kantons Tessin. Es ist eine reine Augenwischerei zu behaupten, das Lohndumping liesse sich mit der Einsetzung der Drei-Parteien-Kommission (Staat – Gewerkschaften – Arbeitgeberorganisationen) wirksam bekämpfen. Eine solche Kommission würde nur für die Aufblähung einer unnötigen Bürokratie sorgen und hätte weder die Macht noch die Mittel, um den Arbeitsmarkt tatsächlich zu kontrollieren. Das Gleiche gilt für die Gross- und Handwerksunternehmen, die sich einer nur schwer zu bekämpfenden Konkurrenz gegenüber sehen, dies vor allem wegen den hier zu Lande deutlich höheren Arbeits- und Infrastrukturkosten. Auch die liberalen Berufe verspüren einen zunehmenden Druck, und dies vor allem in den Bereichen, wo keine staatliche Genehmigung notwendig ist oder wo es keinen Numerus clausus gibt wie etwa bei den Ärzten. Das ist nur der Anfang der Probleme. Seit dem Inkrafttreten des freien Personenverkehrs ist noch kein Jahr vergangen und die entsprechende Information ist noch nicht in ganz Italien zur Kenntnis genommen worden. Die Zunahme der Stellengesuche in den vergangenen Monaten aus weit entfernten Regionen wie Bologna, Genua und dem Nordosten (300 km vom Tessin entfernt) lässt uns für die Zukunft das Schlimmste befürchten.
Unvermeidliche Auswirkungen auf die Sicherheit und den Sozialbereich
Parallel dazu vergrössert sich die Unsicherheit. Die Statistik 2004 der Tessiner Kantonsspital stellt eine alarmierende Zunahme der Kriminalität, eine deutlich höhere Zahl von Diebstählen und Einbrüchen sowie von Straftaten Jugendlicher fest. Diese Entwicklung steht eindeutig im Zusammenhang der höheren Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenquote hat im Tessin unterdessen die 5-Prozent-Grenze überschritten. Besonders betroffen sind die jungen Arbeitnehmer (9,8 Prozent der 20- bis 24-Jährigen).
Es liegt auf der Hand, dass sich die Probleme bezüglich des Arbeitmarktes und der Sicherheit unweigerlich auch auf den Sozialbereich auswirken werden. Mit der Zunahme der Zahl ausländischer Arbeitskräfte hat die Arbeitslosigkeit in den vergangenen Monaten explosionsartig zugenommen. Die Quote stieg von 4 Prozent im Juni 2004 auf unterdessen 5,5 Prozent. Dazu gesellt sich der Sozialtourismus. Im europäischen Vergleich gehören unsere Sozialleistungen zu den grosszügigsten und deshalb auch zu den teuersten. Ein Beispiel: Die Zahl der Familien, die Sozialhilfe empfangen, ist von 1528 im Jahr 2003 auf 1978 ein Jahr später gestiegen.
Die Wirklichkeit ist gegeben und die Zukunft mehr als unsicher
So sieht die Lage weniger als ein Jahr nach Inkrafttreten der Bilateralen Abkommen I bezüglich des freien Personenverkehrs aus.
Stellen Sie sich nun die Zukunft vor, wenn man bei Annahme des Schengen/Dublin-Abkommens die Personenkontrolle an der Landesgrenze aufhebt. Noch düsterer sieht es aus, wenn das Stimmvolk im kommenden September der Erweiterung des freien Personenverkehrs auf die 10 neuen EU-Länder zustimmen sollte.
Die Lage ist ernst und es ist höchste Zeit, zu reagieren. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit in der Schweiz bekämpfen, unseren jungen Leuten bei Abschluss ihrer Schul- oder Studienzeit eine Arbeit anbieten, unseren Nachkommen ein wirtschaftlich, finanziell und sozial gesundes Land hinterlassen: Das sind unsere Ziele. Die Invasion billiger Arbeitskräfte aus dem EU-Raum und insbesondere aus Osteuropa droht uns bei der Erreichung dieser Ziele einen Strich durch die Rechnung zu machen.