Dieses Jahr stand und steht im Zeichen der schweizerischen Europapolitik. Mit einer Reihe zusätzlicher Abkommen und zwei Volksabstimmungen hat die Schweiz ihre Beziehungen zu ihrer wichtigsten…
Bundespräsident Samuel Schmid, Chef VBS, Rüti bei Büren (BE)
1. Einleitung
Dieses Jahr stand und steht im Zeichen der schweizerischen Europapolitik. Mit einer Reihe zusätzlicher Abkommen und zwei Volksabstimmungen hat die Schweiz ihre Beziehungen zu ihrer wichtigsten wirtschaftlichen Partnerin, der EU, konsolidiert. Der „bilaterale Weg“ hat sich dabei als Weg der erfolgreichen schweizerischen Interessenpolitik gegenüber Europa bewiesen. Es hat sich gezeigt: Souverän ausgehandelte bilaterale Verhandlungen und Abkommen mit der EU zu klar umgrenzten Themenbereichen bringen gute, massgeschneiderte Lösungen. Gleichzeitig wird der bilaterale Weg von breiten innenpolitischen Kreisen unterstützt und vom Volk getragen. Er ist mehrheitsfähig – als zurzeit einzige europapolitische Option!
2. Die Schweiz in Europa
Die Schweiz ist und bleibt politisch ein eigenständiges, wirtschaftlich jedoch ein durch und durch europäisches Land. Dazu nur einige Zahlen: Wir beziehen 80% unserer Waren aus der EU und 60% unserer Exporte fliessen in die EU. Täglich pendeln 180’000 Grenzgänger in unser Land, um hier zu arbeiten und Schweizer Unternehmen beschäftigen in der EU über 900’000 Personen. Die Schweiz ist, Importe und Exporte zusammengerechnet, die zweitwichtigste Wirtschaftspartnerin der EU – nach den USA, aber noch vor Japan, China und Russland. Angesichts dieser engen wirtschaftlichen Verflechtung hat die Schweiz ein immenses Interesse an Sicherheit, Wohlstand und Frieden auf dem europäischen Kontinent.
Dem entsprechend wollen wir ein selbstbewusster, eigenständiger, aber ebenso solider wie solidarischer Partner in Europa sein.
Um diese Verantwortung auch wahrzunehmen, beschränkt sich unser Interesse nicht nur auf die Beziehungen zur Europäischen Union:
Im Zentrum unserer Bemühungen steht jedoch der bilaterale Weg: Die Schweiz und die EU realisierten und realisieren gleichberechtigt zu Zweit (daher „bilateral“) eine Reihe von Abmachungen – und dies ohne unumkehrbare institutionelle Bindungen.
Dieser „bilaterale Weg“ wurde von Kritikern im In- und Ausland seit Jahren immer wieder totgesagt. Angesichts der offensichtlichen Erfolge gleicht diese Kritik allerdings mehr und mehr der Skepsis jenes Ökonomen, der sagte: „Das mag vielleicht in der Praxis so sein, aber funktioniert es auch in der Theorie?“
3. Nächste Schritte
Der Bilateralismus ist also „unser“ Weg. Unzweifelhaft. Wie geht es nun aber nach den Abstimmungen über die Bilateralen I und II weiter? Der Bundesrat legte am 26. Oktober 2005 das weitere Vorgehen und die wichtigsten Punkte wie folgt fest:
a) Rasche Ratifikation und Inkrafttreten
Nach den Urnengängen über die Abkommen zu Schengen/Dublin sowie zur Ausdehnung der Personenfreizügigkeit hat die rasche Umsetzung der neuen Verträge Priorität. Das Protokoll zum Freizügigkeitsabkommen soll in Kürze ratifiziert werden, damit es auf Anfang 2006 in Kraft treten kann. Dasselbe gilt, mit einem um einige Monate verschobenen Zeithorizont allerdings, auch für das Abkommen zu Schengen/Dublin.
b) Neue bilaterale Interessenbereiche
Die Schweiz und die EU sind, wie dargelegt, eng miteinander verflochten. Da überrascht es wenig, wenn neben der Pflege und eventuell notwendigen Weiterentwicklung der bestehenden Abkommen auch weiterhin neue Anliegen auftauchen, die im Interesse beider Partner liegen.
Lassen sie mich jedoch unterstreichen: Ein neues Verhandlungspaket à la Bilaterale III ist nicht in Sicht. Allenfalls neu definierte Themen sollen einzeln aufgenommen und behandelt werden. Zu solchen neuen Themen gehören zum Beispiel folgende Stichworte:
c) Beitrag an die Verringerung der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten der erweiterten EU (Kohäsion)
Der Bundesrat hat die Absicht, die neuen EU-Staaten mit einem einmaligen Solidaritätsbeitrag zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in den EU-Mitglied-staaten zu unterstützen. Wir anerkennen mit diesem selber verwalteten Beitrag die hohe Bedeutung der letzten EU-Erweiterung für die Sicherheit und den Wohlstand Europas. Mit ihrem autonomen Beitrag beteiligt sich die Schweiz solidarisch, aber eigenständig, an der Bewältigung der Herausforderungen der EU-Erweiterung.
Damit ist auch klar, was dieser einmalige Solidaritätsbeitrag nicht ist: Es ist nicht der „Preis“, den die Schweiz für den Abschluss der Bilateralen II oder für einen Marktzugang zu den neuen EU-Staaten zu zahlen hat. Der Bundesrat hat auch nicht die Absicht, sich mit seinem Beitrag in die Kohäsionspolitik der EU einzugliedern: Die Unterstützungsleistung ist eine einmalige, eigenständige Geste der Solidarität und Mitverantwortung gegenüber einzelnen Ländern Osteuropas.
Die Unterstützung wird – unter Führung der Schweiz, nicht der EU! – in jeweils einzelner Zusammenarbeit mit den Empfängerstaaten zugunsten ausgewählter Projekte geleistet. Die Zahlungsverpflichtungen im Umfang von einer Milliarde Franken über fünf Jahre sollen budgetneutral vollständig aus den Mitteln des EDA und des EVD finanziert werden, wobei auch Einnahmen aufgrund des Zinsdossiers berücksichtigt werden können. Weitergehende Verpflichtungen – sei es eine Weiterführung der Unterstützung, seien es zusätzliche Leistungen an künftige EU-Staaten – stehen damit heute ausdrücklich nicht zur Debatte.
d) Europabericht
Wie vorgesehen wird der Bundesrat nächstes Jahr eine Auslegeordnung und Analyse der verschiedenen europapolitischen Optionen für das weitere langfristige Vorgehen vornehmen und damit eine Grundsatzdiskussion ermöglichen. Dieser Bericht wird von den für die Europapolitik zuständigen Departementen EDA und EVD koordiniert und in Zusammenarbeit mit den betroffenen Stellen der Bundesverwaltung redigiert. Untersucht werden namentlich folgende Optionen:
4. Schlusswort
Zusammenfassend halte ich fest, dass die Schweiz in diesem aussen- und europapolitisch entscheidenden Jahr 2005 eine universellere Ausrichtung ihrer Aussenpolitik (Stichworte Asien und USA) festgelegt sowie den bilateralen Weg substanziell ausgebaut und gefestigt hat. Nie waren die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU massgeschneiderter und für beide Partner vorteilhafter. Deshalb spielt für mich auch der aktuelle oder künftige Standort des verstaubten Gesuches von 1992 keine Rolle mehr. Ob nun in Brüssel oder Bern: Schublade bleibt Schublade. Andere europapolitische Modelle stehen deshalb für die nächsten Jahre nicht zur Diskussion. Wer dem widerspricht, verkennt bewusst oder unbewusst die politische Realität.
Bei ihren europäischen Partnern geniesst die Schweiz durchaus Anerkennung für ihre aktive, umtriebige Realpolitik des „bilateralen Weges“, ebenso wie für ihre solidarische Nachbarschaft. Ich konnte dies heuer in meinen zahlreichen Kontakten mit ausländischen Staats- und Regierungschef eindrücklich spüren. Das waren keine diplomatischen Floskeln, sondern Zeichen echter Wertschätzung und Achtung. Denn das wachsende Verständnis der EU gegenüber dem bilateralen Weg der Schweiz und ihrer eher gemächlichen, ja vorsichtigen, aber letztlich nachhaltigen Referendumsdemokratie dürfte nicht zuletzt in den internen Erfahrungen liegen, welche die EU in letzter Zeit selber mit Volksabstimmungen über Integrationsprojekte gemacht hat.
Was schliesslich die längerfristige Europapolitik der Schweiz betrifft, wird der Bundesrat auch künftig eine aufmerksame, aktive Politik der eigenständigen Zusammenarbeit mit Europa verfolgen. Dies um die bestmöglichen Bedingungen für unser Land und ein optimales Verhältnis zu unserem grössten wirtschaftlichen Partner und politischen Nachbarn, der EU, zu erreichen.
Für den Bundesrat steht dazu der bilaterale Weg im Vordergrund. Nur dieser ist heute mehrheitsfähig. Und weil Politik, die am Volk vorbeigeht, scheitert, stehen andere europapolitische Optionen zurzeit schlicht nicht zur Diskussion. Auch nicht Beitrittsziele.