Noch vor wenigen Monaten waren wir der Meinung, die Corona-Krise sei eine der grössten Herausforderungen, die wir zu meistern hätten. Doch innert kurzer Zeit hat sich die Situation vollends verändert. Der Ukraine-Krieg dominiert die Schlagzeilen. Die humanitäre Katastrophe, die sich wenige Autostunden von der Schweizer Grenze entfernt abzeichnet, ist inakzeptabel und besorgniserregend.
Der Krieg mit seinen Folgen führt zu Verunsicherung, sei es in unserer Bevölkerung, sei es in der Politik, sei es auf den Weltmärkten. Er hat starke Auswirkungen auf die globale Ernährungssituation.
Russland und die Ukraine gehören zu den wichtigsten Getreideexporteuren weltweit. UN-Generalsekretär António Guterres hat deswegen vor einem «Wirbelsturm des Hungers» gewarnt und dazu aufgerufen, einen «Zusammenbruch des globalen Nahrungssystems» zu verhindern.
Vor diesem Hintergrund ist völlig nachvollziehbar, dass sich auch die Bevölkerung in der Schweiz Gedanken zur unserer Nahrungsmittelversorgung macht.
Wie steht es um unsere Versorgungssicherheit?
Sind wir von Lebensmittel-Engpässen betroffen?
Was bedeuten die Preissteigerungen auf den Weltmärkten für uns?
Sind genügend Produktionsmittel verfügbar?
Diese Fragen stehen derzeit im Zentrum. Diese Fragen diskutieren wir auch im Bundesrat.
Die direkte Abhängigkeit der Schweiz von Russland und der Ukraine ist bei den Nahrungsmitteln relativ klein. Im letzten Jahr hat die Schweiz 2% des Getreides, 4% der Futtermittel sowie 4.5% der Öle und Fette aus der Ukraine und Russland importiert.
Darüber hinaus bezog die Schweiz Düngemittel und Bestandteile dafür aus diesen beiden Staaten.
Die Nahrungsmittelversorgung der Schweizer Bevölkerung ist gewährleistet. Das gilt auch für die Produktionsmittel. Die notwendigen Dünger für die diesjährige Pflanzenbausaison sind zu einem guten Teil bereits auf den Betrieben. Der Bund beobachtet die Situation laufend und unternimmt die notwendigen Massnahmen, um die landwirtschaftliche Produktion sicherzustellen. So hat er bereits Ende Dezember Pflichtlager für Stickstoffdünger freigegeben, als sich ein Engpass abzeichnete. Anfang März hat er die Einfuhrzölle für Futtergetreide gesenkt, um den Import zu erleichtern. Sollten sich dennoch schwerwiegende Engpässe abzeichnen, verfügt der Bund über Pflichtlager für verschiedene Nahrungsmittel wie Zucker, Reis, Speiseöle und -fette, Weizen und auch für Futtermittel. Es ist aber ein Fakt: Die weltweite Versorgungssicherheit wird verwundbar bleiben.
Können wir – oder müssen wir unseren Selbstversorgungsgrad in der Schweiz erhöhen, um möglichst unabhängig von den globalen Märkten zu sein?
Diese Frage ist in diesen Tagen mehr als berechtigt.
Heute ist es so, dass die Schweiz einen Bruttoselbstversorgungsgrad mit Nahrungsmitteln von 57 Prozent und einen Nettoselbstversorgungsgrad von rund 50 Prozent erreicht.
Milch und Milchprodukte produzierte die Schweiz im Jahr 2020 mehr, als sie selbst verbrauchte. Bei Fleisch betrug der Anteil der einheimischen Produktion 84%, wobei speziell bei der Produktion von Geflügel- und Schweinefleisch viel importiertes Futter verwendet wird.
Durchschnittlich deckt die Inlandproduktion von Brotgetreide und Kartoffeln den Bedarf zu 85%, von Zucker zu 60% und von Pflanzenölen zu rund 25%. Die Produktion von Raufutter deckt 97% und Kraftfutter 40% des inländischen Bedarfs.
Aufgrund der unterdurchschnittlichen Getreide-Ernte im letzten Jahr wird es nun aber nötig sein, das Importkontingent für Brotgetreide zu erhöhen, um die inländische Nachfrage zu decken.
Wie liesse sich unser Selbstversorgungsgrad weiter steigern?
Kurzfristige Massnahmen in der landwirtschaftlichen Produktion sind schwierig umzusetzen. Denn die Aussaat der Kulturen für das Erntejahr 2022 und Produktionsmittelbeschaffung sind weitgehend abgeschlossen.
Auf die kommenden Pflanzperioden gäbe es wohl einen gewissen Spielraum, den wir anschauen müssen.
Mittelfristig wäre es möglich, die Inland-Produktion anzupassen. Seien wir uns bewusst: Heute werden rund 60 Prozent des Schweizer Ackerlandes für die Produktion von Futtermitteln verwendet. Auf diesen Flächen könnten zum Beispiel Kartoffeln, Brotgetreide oder Ölsaaten angebaut werden. Damit liesse sich der Selbstversorgungsgrad erhöhen.
Es hätte aber Konsequenzen.
Die Nutztierbestände müssten reduziert werden, weil weniger Futtermittel zur Verfügung stünde. Das wäre aber nur sinnvoll, wenn die Konsumentinnen und Konsumenten weniger tierische Produkte wie Fleisch oder Eier essen.
Ziel der Landwirtschaftspolitik ist die langfristige Erhaltung der Produktionskapazität der Schweizer Landwirtschaft. Der Bund unterstützt deshalb die Produktion bereits heute mit namhaften Versorgungssicherheitsbeiträgen von mehr als einer Milliarde Franken. Zusätzlich richtet er Einzelkulturbeiträge für strategisch wichtige Kulturen wie Zuckerrüben, Raps, Sonnenblumen, und Proteinträger in der Höhe von rund 64 Millionen Franken aus.
Diese Instrumente einer nachhaltigen Agrarpolitik bewähren sich und können bei Bedarf gezielt angepasst werden.
Wir müssen heute für morgen handeln. Dazu braucht es die Bereitschaft entlang der ganzen Wertschöpfungskette. Die Landwirtinnen und Landwirte produzieren, was Konsumentinnen und Konsumenten kaufen.
Ein Umdenken muss also gleichzeitig geschehen. Wir werden dem Aspekt der Selbstversorgung auch bei der Ausgestaltung der künftigen Agrarpolitik mehr Beachtung als bisher schenken müssen.
Mit gut ausgebildeten Bäuerinnen und Bauern, dem Erhalt der fruchtbaren Böden, einer intakten Biodiversität und leistungsfähigen Verarbeitungsbetrieben können wir eine hohe Inlandproduktion von Nahrungsmitteln sicherstellen. Mit ressourceneffizienten Technologien sowie standortangepassten und resistenten Sorten und Kulturen können wir die Auslandabhängigkeit von Produktionsmitteln wie Dünger oder Pflanzenschutzmitteln reduzieren. Ziel muss sein, mit weniger mehr zu produzieren.
Sehr geehrter Präsident
Meine Damen und Herren
Der Bundesrat wird die internationale Situation weiterhin genau verfolgen und analysieren. Mit dem Landesversorgungsgesetz und dem Landwirtschaftsgesetz verfügt er über die gesetzlichen Grundlagen, um angepasst und zielführend reagieren zu können. Ich bin zuversichtlich, dass wir dank unserer produktiven Land- und Ernährungswirtschaft, unseres Knowhows und unserer Innovationskraft auch diese Krise meistern werden.