Ich darf Ihnen wenige Tage vor der Veröffentlichung des Lehrplans 21 eine Auslegeordnung zur Schweizerischen Bildungspolitik machen. Meine Sicht auf die Dinge ist die eines kantonalen…
Regierungsrat Stephan Schleiss, Bildungsdirektor Kanton Zug, Steinhausen (ZG)
Ich darf Ihnen wenige Tage vor der Veröffentlichung des Lehrplans 21 eine Auslegeordnung zur Schweizerischen Bildungspolitik machen. Meine Sicht auf die Dinge ist die eines kantonalen Erziehungsdirektors. Meine Ausführungen sind wie folgt gegliedert:
1. Vom Wert der Vielfalt,
2. die Fremdsprachendebatte und
3. schliesslich ein kurzer Ausblick auf den Lehrplan 21.
Ich komme nun als erstes auf den Wert der Vielfalt und damit auf etwas sehr Grundsätzliches zu sprechen. Das Grundsätzliche muss vor den Details geklärt werden.
Vielfalt vor Einfalt ist die wichtigste Regel für ein starkes Schulwesen. Warum ist das so? Bildung ist keine exakte Wissenschaft. Und es ist das Merkmal nicht exakter Wissenschaften, dass sie auf den Zeitgeist reagieren. In der Mathematik ist 2+2 vier und Pi ist 3.1415 … aber in der Erziehung und Bildung gibt es diese Exaktheit nicht. Das Schulwesen ist eine nicht-exakte Wissenschaft. Und ich mache an dieser Stelle immer gerne den Hinweis, dass das nicht von mir ist, sondern von Albert Einstein.
Was heisst das für uns? Wo es keine allein gültigen wissenschaftlichen Wahrheiten gibt, da muss politisch um die Lösung gerungen werden. Die Gesellschaft muss um die beste Schule ringen. In einer politischen Debatte muss das Primat der Politik gelten – auch und gerade in der Bildungsdebatte! Wenn Ihnen also ein so genannter Bildungsexperte sagt, dass Sie für die Bildungsdebatte nicht genug qualifiziert sind, dann machen Sie es so wie ich: Zitieren sie Albert Einstein … und debattieren Sie weiter. Die Gestaltung des Bildungswesens ist keine exakte Wissenschaft, sondern eine politische Frage.
Das führt zur Frage nach der politischen Grundordnung. Die Schweiz ist föderalistisch aufgebaut und erzielt damit hervorragende Ergebnisse. Unser System lässt Raum für neue Lösungen. Neue Ideen können auf kurzen Wegen umgesetzt werden. Die guten Ansätze werden kopiert und die Schlechten gehen vergessen. Und wenn sich mal eine Gemeinde oder ein Kanton verrennt, so bleibt dank unserem Staatsaufbau die Reichweite solcher Fehlentscheidungen beschränkt. Der vielfältige Föderalismus ist eine Erfolgsstory – auch und vor allem in der Bildung! Bildungsvielfalt ist gut für die Bildungsqualität. Es ist meine tiefe Überzeugung: Vielfalt ist das beste Instrument für ein starkes Schulwesen
Die Gegner der Bildungsvielfalt, die Harmonisierer und Zentralisten, führen immer das gleiche, eine Argument ins Feld: Die Mobilitätshindernisse. Ich halte diese Mobilitätshindernisse für masslos überschätzt! Familien mit schulpflichtigen Kindern, die vom einen Kanton in den anderen ziehen und dann mit dem anderen Schulsystem nicht klar kommen, sind die Ausnahme. Der weit überwiegende Normalfall absolviert seine ganze Schulpflicht im gleichen Kanton und wer doch zügeln muss, hat in den allermeisten Fällen keine nachhaltigen Probleme. Und auf diesen Normalfall haben wir uns auszurichten. Um für ein paar Wenige die Mobilität zu verbessern, können wir doch nicht die Schulqualität für alle anderen verschlechtern!
Ich kann doch nicht sagen, dass ein weisser Hund schwarz ist, nur weil er schwarze Augen hat…
Aber genau das geschieht in der Harmonisierungsdebatte. Man will ein zentrales Schulwesen, das sich komplett auf Ausnahmen ausrichtet. Das ist ein kompletter Blödsinn.
Und dennoch ist die Harmonisierung der Schweizerischen Bildungslandschaft ein Thema. Es gibt dazu einen Verfassungsauftrag, der für alle Kantone gilt. Und es gibt das Harmos-Konkordat, das viel weiter geht als der Verfassungsauftrag, aber nur für einen Teil der Kantone gilt. Wenn sich ein Teil der Kantone über das Konkordat gleichschalten, gefährdet dies die Vielfalt in der Schweizer Bildungslandschaft noch nicht endgültig, obwohl es der falsche Weg ist. Wichtig ist einfach, dass es neben den Harmos-Kantonen auch die Gegenmodelle der Nicht-Harmos-Kantone gibt. Und die Mehrheit der Deutschschweizer Kantone sind Nicht-Harmos-Kantone.
Und damit ein Wort zur Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK). Da gibt es einige Harmonisierer und Zentralisierer… Die EDK will den Verfassungsauftrag anhand des Harmos-Konkordates umsetzen. Die Nicht-Harmos-Kantone sollen einfach bis Ende 2014 konkrete Vorbehalte anmelden, bspw. wenn sie sich nicht für das zweijährige Kindergartenobligatorium verpflichten möchten. Ich werde mir für den Kanton Zug auf alle Fälle sehr gut überlegen, ob ich auf diese Übung überhaupt einsteige. Ein Kanton kann doch nicht von der Behörde eines Konkordates, dem er nicht beigetreten ist, verpflichtet werden, jeden Punkt zu benennen, der für ihn nicht gelten soll. Der Weg zur Umsetzung des Verfassungsauftrages über das Harmos-Konkordat ist aber nicht nur aus staatsrechtlich-formeller Sicht problematisch sondern auch inhaltlich, weil Harmos über den Verfassungsauftrag hinaus geht. Ein grosser erster Gradmesser ist die Frage der Fremdsprachen auf der Primarstufe. Und damit komme ich zu meinem zweiten Punkt.
Die Debatte um die Fremdsprachen auf der Primarstufe entzündet sich im Moment gerade. Es geht vor allem um die Frage, 3/5 oder 3/7. 3/5 heisst, die erste Fremdsprache kommt in der dritten Primarklasse, die zweite in der fünften. Im Modell 3/7 startet die zweite Fremdsprache demgegenüber erst auf der Oberstufe in der siebten Klasse. Harmos schreibt das Modell 3/5 vor. Der Generalsekretär der EDK vertritt nun die Meinung, dass auch die Nicht-Harmos-Kantone an das Modell 3/5 gebunden seien. Allerdings ist diese Meinung innerhalb der EDK nicht unbestritten.
Heute gibt es noch zwei Kantone, die nach dem Modell 3/7 unterrichten und damit zufrieden sind. Der Wert der Vielfalt besteht nun darin, dass es die beiden Kantone real gibt. 3/7 ist kein theoretisches Konstrukt, das mit dem Hinweis „chasch ja ned…“ abgetan werden kann. Das Modell existiert und es funktioniert. Nicht zuletzt deshalb gibt es nun in mehreren Deutschschweizer Kantonen breit abgestützte parlamentarische Vorstösse, die das Modell 3/7 fordern. Ähnliche Forderungen kommen aus Lehrerkreisen und Lehrerverbänden, sie kommen vom Gewerbe, und vereinzelt sogar aus der Wissenschaft.
Wie sehr sich die EDK dadurch herausgefordert sieht, lässt sich an einer Bemerkung in einem Bericht des Koordinationsstabes für die Harmonisierung der obligatorischen Schule von der EDK erkennen. Da heisst es: „Das“, ich zitiere, „Schweizerische Kompetenzzentrum Mehrsprachigkeit wird in Zukunft zweifellos vermehrt geeignete Erkenntnisse zutage fördern, welche die weitere Einführung und Evaluation eines Sprachenunterrichts im qualitativen Sinne der EDK-Strategie befördern helfen.“ Heisst das auf gut Deutsch: Unsere Studien werden dann schon die richtigen Ergebnisse für die Strategie liefern? Es gibt eine noch einfachere Übersetzung: Trauen Sie den Studien der EDK nicht.
Und damit komme ich zum dritten und letzten Punkt, dem Lehrplan 21. In nicht einmal zwei Wochen wird die D-EDK die Vernehmlassung zum Lehrplan 21 eröffnen. Diese wird bis Ende 2013 dauern, anschliessend folgt die Auswertung und in der ersten Hälfte 2014 werden die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren die Lehrplan-Vorlage zuhanden der Kantone verabschieden. Dann ist jeder Kanton einzeln an der Reihe. Die Kantone werden aber die Vorlage nicht tel quel übernehmen müssen, sondern auch Anpassungen machen können. Die Kantone können auch ergänzen oder weglassen.
Gewisse Punkte des Lehrplans 21 haben bereits Eingang in die öffentliche Debatte gefunden. Es geht vor allem um umstrittene Inhalte oder gewerkschaftliche Aspekte, seltener um Fachbereiche, also um die Frage, ob beispielsweise Informatik oder Berufswahl ein eigenes Fach sein sollen.
Was mir bisher aber zu kurz gekommen ist, ist ein pädagogischer Aspekt, auf den ich Sie hinweisen möchte. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der zur Verfügung gestellten Unterrichtszeit und den erreichbaren Lernzielen, kurz: mehr Unterricht = höhere Ziele. Nun gibt es in der Deutschschweiz aber sehr unterschiedliche Dotationen an Lektionen in den einzelnen Fächern.
Im Lehrplan-21-Projekt wurde eine Normstundentafel definiert, welche grosso modo den Deutschschweizer Durchschnitt an Lektionen abbildet. Auf dieser Basis wurden im Lehrplan 21 die Lernziele definiert. Das ist gut für die Kantone, deren Lektionen sich im Durchschnitt bewegen. Diejenigen Kantone, die Lektionen zwischen den Fächern – bspw. zwischen Musik und Handarbeit – umverteilen müssen, riskieren gewerkschaftliche Auseinandersetzungen. Schlimmer noch trifft es jene Kantone, die zuwenig Lektionen an sich haben. Die haben ein finanzielles Problem. Eine Wochenlektion mehr über alle zehn Schuljahre würde die öffentliche Hand im Kanton Zug gut 4,5 Mio. Franken kosten. Damit Sie die Zahlen auf Ihren Kanton hochrechnen können: Der Kanton Zug hat nicht ganz 120’000 Einwohner… Gemäss einer Erhebung der D-EDK liegt derjenige Deutschschweizer Kanton mit den wenigsten Lektionen rund zwei Wochenstunden unter dem Durchschnitt. Allein diese Stundenharmonisierung würde die betroffenen Kantone Millionen kosten.
In den meisten Kantonen wird man also Differenzen haben zwischen den in der Lehrplanvorlage definierten Lernzielen und der im Kanton verfügbaren Unterrichtslektionen. Aus verschiedenen Gründen wird es nicht kurzfristig möglich sein, die Lektionszahl einfach anzupassen. Gleichzeitig werden die Harmonisierer und Zentralisten Druck machen, den Lehrplan 21 möglichst unverändert zu übernehmen. Und damit ist das pädagogische Dilemma aufgezeichnet. Lösen kann man dieses Dilemma bei der Einführung des Lehrplans nur, wenn man vom Dogma „unverändert einführen“ abweicht. Und lösen muss man dieses Dilemma, weil man sonst nur die nächste unausgegorene Reform auf dem Buckel des Lehrers an der Front anstösst. Das haben weder unsere Kinder noch unsere Lehrer verdient.
Wir müssen uns also dafür einsetzen, dass der Lehrplan 21 nicht tel quel übernommen, sondern auf die Verhältnisse vor Ort angepasst wird. So macht man das mit allem in der Schweiz.
Ich fasse zum Schluss meine Thesen zusammen:
Erstens: Bildung ist keine exakte Wissenschaft. Wissenschaftliche Einheitslösungen kann es im Schulwesen nicht geben. Darum ist Vielfalt vor Einfalt die wichtigste Regel für eine starke Schule.
Zweitens: Bildungswissenschaftliche Studien sind mit Vorsicht zu geniessen – auch wenn sie von der EDK kommen.
Drittens: Bei der Einführung des Lehrplan 21 ist auf die Verhältnisse des jeweiligen Kantons Rücksicht zu nehmen. Vielfalt vor Einfalt gilt auch hier.
Und am wichtigsten ist: Wir müssen uns als Partei in die Bildungsdebatte stürzen. Es gibt keine gute Schule – ausser es wird um sie gerungen.