Referat

Würdigung von Solothurner Persönlichkeiten und ihre Bedeutung für die heutige Schweiz

Bächtelistag-Rede gehalten von Christoph Blocher, a. Bundesrat, anlässlich der «Bächtelistag»-Neujahrsveranstaltung am 2. Januar 2021 10.30 Uhr, Hotel Kreuz, Balsthal

Christoph Blocher
Christoph Blocher
a. Bundesrat Herrliberg (ZH)

Es gilt das schriftliche und das mündliche Wort. Der Redner behält sich vor, auch stark vom Manuskript abzuweichen.

Josef Munzinger (1791–1855)
Kämpfer für die Schweiz

Cuno Amiet (1868–1961)
Maler der Moderne

Willi Ritschard (1918–1983)
Arbeiter im Bundesrat

Bild: Solothurner Wappen am Rathaus

Herr Partei- und OK-Präsident, Nationalrat Christian Imark,
Herr Regierungsratskandidat Richard Aschberger,
Liebe Solothurnerinnen und Solothurner,
Getreue, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der übrigen Eidgenossenschaft,
Liebe Frauen und Männer!

Seit 10 Jahren führen wir diesen kulturellen Grossanlass in ganz verschiedenen Kantonen und Regionen unseres Landes durch. In diesem Jahr gezwungenermassen ohne «greifbares» Publikum.

So begrüsse ich Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, meinerseits herzlich vor Ihren Computern oder an Ihrem Tablet oder am Handy oder wie immer Sie uns elektronisch empfangen können, zur diesjährigen Grossveranstaltung der Würdigung von Persönlichkeiten und ihrer Bedeutung für die heutige Schweiz.

Bild: Munzinger, Amiet, Ritschard

Es sind die Solothurner:

  • Josef Munzinger (1791–1855)
  • Cuno Amiet (1868–1961)
  • Willi Ritschard (1918–1983).

Munzinger, Amiet, Ritschard – diese grossen Solothurner haben über ihr Lebensende und weit über ihren Solothurner Heimatkanton hinaus gestrahlt.

II. Josef Munzinger (1791–1855), Kämpfer für die Schweiz

1. Das Städtchen Olten

Tauchen wir zunächst in die Geschichte der Alten Eidgenossenschaft ein. Josef Munzinger – 1791 (also noch im 18. Jahrhundert geboren) und 1855 (also sieben Jahre nach der Gründung der modernen Eidgenossenschaft) gestorben, erlebte noch die ungerechte, unfreie Ungleichheit zwischen Stadt und Land. So regierten auch in Solothurn über Jahrhunderte die «Gnädigen Herren Stadtbürger» – d.h. einige wenige Familien. Es herrschte das Privileg der Geburt und des Ortes.

Bild : Städtchen Olten, 19. Jahrhundert

Auch das Städtchen Olten litt unter der Regentschaft dieser gnädigen Herren zu Solothurn. Hier in Olten – nicht in Solothurn – lebten die Munzingers. Man liess sie spüren, dass sie über Olten hinaus nichts zu melden hatten. Und hier wurde 1791 Josef Munzinger geboren.

Bild: Junger Munzinger

Obwohl 1798 die Franzosen in die Schweiz einmarschierten und die Gleichstellung von Stadt und Land durchsetzten, kamen 1814 in Solothurn die gnädigen Herren von Solothurn wieder ans Ruder.

Das passte dem freiheitlich gesinnten jungen Munzinger in Olten nicht. Er rebellierte, wurde deshalb gefangen, musste fliehen und wurde wieder befreit, weil seine Seite erneut Aufschwung bekam. Nun wurde er Stadtschreiber in Olten und verwaltete die väterliche Landwirtschaft.

Offenbar war er ziemlich frühreif; schon mit 17 Jahren zeugte er ein uneheliches Kind. Eine erste Ehefrau starb aber kinderlos, doch die zweite Frau, die Bäckerstochter Anna Maria Lüthi, schenkte ihm neun Kinder!

2. Redner von Balsthal

Bild: Volkstag von Balsthal

Die grosse Stunde von Josef Munziger schlug am 22. Dezember 1830 am Volkstag von Balsthal. Hier nebenan auf der Treppe des Hotels «Rössli» verkündete er vor über 2000 begeisterten Zuhörern die mutige Forderung:
«Die Souveränität des Volkes soll ohne Rückhalt ausgesprochen werden.» Das Volk soll über den Regierenden stehen.

Bild: Hotel Rössli in Balsthal

Man könnte diese Treppe in Balsthal das «Rütli» des modernen, freiheitlich demokratischen Solothurns nennen.

Die Worte des Redners von Balsthal, die ausdrücken, was viele dachten, aber nicht wagten zu sagen, setzten sich durch. Die Patrizier mussten abtreten, Solothurn bekam 1831 eine liberale Kantonsverfassung. Munzinger wurde Regierungsrat, 1833 Regierungspräsident, seit 1840 mit dem Titel Landammann.

Bild: Olten, 1841

Erst nach fünf Jahren Regierungsrat übersiedelte er 1836 von Olten in die Hauptstadt.

Bild: «Züriputsch» von 1839

Unter dem Eindruck des Züriputschs von 1839, als bewaffnete, religiös-konservative Landleute in die Stadt Zürich zogen, um das liberale Regime vorübergehend zu stürzen, befürchtete Munzinger in Solothurn Ähnliches. Er griff im Kampf gegen die Konservativen zu brutalen, undemokratischen Mitteln, ja zu rechtswidrigen Hochverratsprozessen. (Immer wieder das Gleiche: Auch die liberalsten Politiker werden in Zeiten der Bedrängnis zu brutalen Diktatoren.)

3. Gründer der Frankenwährung

Bild: Josef Munzinger

Munzinger war ein tonangebendes Mitglied in der Revisionskommission einer neuen Bundesverfassung von 1848. Er ergriff 188 Mal das Wort – am meisten von allen!

Bild: Bundesverfassung von 1848

So kam es zur Schweizerischen Bundesverfassung von 1848, zu einer Erfolgsgeschichte, die der Schweiz schon über 170 Jahre Unabhängigkeit, Freiheit, Wohlstand, Frieden und Volksrechte garantiert hat. Und der Solothurner Josef Munzinger war einer der wichtigsten Architekten dieses genialen Werkes.

Bild: Schweizer Franken, 1850

Im November 1848 wurde Munzinger in den ersten Bundesrat gewählt.

Dort leitete er hauptsächlich das Finanzdepartement, und seine grösste, auf Dauer bedeutendste Leistung bildete 1850 die Einführung des Schweizer Frankens. Und dies gegen grossen Widerstand. Vor allem die Ostschweizer haben den Franken bekämpft, aber der kluge Solothurner behielt recht. Die Schweiz ist mit ihrer Währung bis heute sehr gut gefahren.

Bild: Josef Munzinger, 1830er Jahre

Josef Munzinger gehörte zu den so genannten Alt-Liberalen, d.h. zu den Liberalkonservativen – die «Grauen» genannt. Sie wurden später vom linken Parteiflügel – den Radikal-Liberalen, auch «die Roten» genannt – verdrängt. Viele Liberalkonservative vom Munzinger-Flügel wählen heute SVP; die Linksfreisinnigen beziehungsweise Roten gibt’s im Kanton noch immer, sie ziehen die FDP Solothurn bis heute eher nach links.

Auch als Bundesrat blieb dieser Solothurner bescheiden und anspruchslos. Als ein Bundesratskollege eine besondere Livrée – also eine Uniform – für die Weibel vorschlug, meinte Munzinger trocken: «Einen solchen Affen dulde ich sicher nicht in meinem Büro.»

Munzinger verstarb 1855 nach längerer Krankheit. Hoch angerechnet wurde ihm, dass er als Katholik nach dem Sonderbundskrieg 1847 viel für die Aussöhnung mit den unterlegenen katholischen Kantonen geleistet hat.

Wie er auch als Katholik massgeblich dafür sorgte, dass der mehrheitlich katholische Kanton Solothurn dem Sonderbund nicht beitrat, und sich der Kanton Solothurn auch nicht am Sonderbundskrieg von 1847 – dem letzten Krieg auf Schweizer Boden –beteiligte.

III.  Cuno Amiet (1868–1961), Maler der Moderne

1. Einflüsse

Bild: Selbstbildnis mit Apfel, 1902

Der 1868 geborene Solothurner Kunstmaler Cuno Amiet verbrachte einen Drittel seines langen Lebens (er wurde 93-jährig) noch im 19. Jahrhundert. Er gehört zu den führenden Kunstmalern der Schweiz. Wir sehen hier den 34-Jährigen im Selbstporträt.

Nach Amiets Tod hat Hodler, der anfänglich eng befreundet war mit Amiet und diesen auch beeinflusste, sich später aber entfremdete, Amiets unerreichte Meisterschaft im Gebrauch der Farben gewürdigt. Und tatsächlich: Wichtiger noch als die Bildkomposition war ihm die Farbgebung. Und so gehört Amiet denn auch zu den ganz wichtigen Vertretern der modernen Malerei.

Bild: Das Dorf Pont-Aven, 1893

Der junge Cuno Amiet wurde zuerst Schüler des grossen Solothurner Malers Frank Buchser. An der Akademie in München schloss er eine lebenslange Freundschaft mit dem Bergeller Maler Giovanni Giacometti. Fast vier Jahre bildete er sich in Paris weiter und reiste nach Pont-Aven in der Bretagne. Hier entdeckte er das Werk von Gaugin und van Gogh – und damit die Bedeutung der Farben. So hat Amiet 1893 das Dorf Pont-Aven gemalt: damals eine kühne, neue Malerei. Schauen Sie auf die Farben!

Bild: Richesse du soir, 1899

Deutlich «hodlerisch» ist Cuno Amiets grossformatige «Richesse du soir», heute – wie viele weitere seiner Werke – im Kunstmuseum Solothurn zu bewundern.

Bild: Der grüne Hut, 1898 / Der violette Hut 1907

Deutlich persönlicher ist Amiets Bild «Der grüne Hut» (links), wobei schon der Titel zeigt, wie sehr ihn die Farben interessierten. Wir sehen seine Frau Anna, geborene Luder, eine Wirtstochter aus Hellsau. Die Dame mit dem violetten Hut (rechts) ist ebenfalls Amiets Gattin. Sein übergrosses Talent liess ihn ganz verschiedene Stile versuchen, und zwar nicht nur im Verlauf seines langen Lebens, sondern auch gleichzeitig. Er soll sich über seine eigene Vielfalt geärgert haben und nannte sich den «Vielverzweigten».

Dadurch ist Amiet für mich auch schwieriger zu erfassen, weil er im Laufe seines 93-jährigen Lebens verschiedene Stilrichtungen verfolgte und immer ein Suchender blieb. In meiner Sammlung habe ich aus diesem Grund nur wenige Werke von ihm.

Bild: Wohnhaus Oschwand, o.J.

Seine Frau Anna brachte Ruhe, Geborgenheit und Gastlichkeit in sein Leben. 1898, im Jahr ihrer Heirat, zog das Paar auf die Oschwand im bernischen Oberaargau, wo der Künstler fortan – weit abgeschieden von der Welt und vom grossen Kunstbetrieb – arbeitete.

Seine Oschwand war Mittelpunkt seines Lebens: Heim, Atelier, Garten – oft Sujet seiner Malerei –, aber auch Ort seiner Gastlichkeit.

Bild: Gastlichkeit auf der Oschwand

Im und vor dem Haus Oschwand herrschte ein reges, meist heiteres Leben. Leider verstarben zwei eigene Kinder früh, doch das Ehepaar Amiet erzog dafür andere Kinder. Bei ihnen lebte etwa Otto Hesse, der älteste Sohn des Schriftstellers Hermann Hesse. Wir sehen hier links stehend Cuno Amiet, am Kopfende des Tisches den späteren Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse.

Bild: Hoffnung und Vergänglichkeit, 1902

Von hohem Symbolgehalt und gleichzeitig höchst intim ist das Triptychon (dreiteilige Tafelbild) mit dem heutigen Titel «Hoffnung und Vergänglichkeit» von 1902, heute im Kunstmuseum Olten. Den Mittelteil hat er als «Hoffnung» während der ersten Schwangerschaft seiner Frau vollendet, die beiden Flügel mit männlichem und weiblichem Gerippe nach ihrer Todgeburt eines Knäbleins. Wir spüren, wie nahe beisammen Geburt und Tod, Freude und Schmerz, Licht und Schatten sind.

2. Der eigene Weg

Bild: Die Wäsche, 1904

Zu seinen besten, persönlichsten Arbeiten gehört auch «Die Wäsche», über die der Künstler schrieb: «Damenhöslein und Herrenhemden, schön und rund vom Wind aufgebläht, zwischendurch eine Frau, einen Korb voll Wäsche tragend. All das saubere Weiss ist herrlich in der farbigen Landschaft.»

Das war jedoch noch nicht der allgemeine Geschmack, darum war Amiet froh um private Förderer und Sammler wie den Papierindustriellen Oskar Miller von Biberist oder Gertrud Dübi-Müller.

Bild: Gertrud Dübi-Müller, 1911

Diese war eine emanzipierte Frau, die als erste Solothurnerin ein Auto fuhr. Sie besuchte Malunterricht bei Amiet und liess sich gerne von ihm malen. Die hervorragende Sammlung der Dübi-Müller-Stiftung wurde ins Solothurner Kunstmuseum eingebracht.

3. Vielverzweigter

 Bild: Drei Selbstporträts

Einen gewichtigen Teil in Cuno Amiets Werk nimmt das Selbstporträt ein. Hier drei davon in verschiedenen Lebensaltern.

Bild: Atelier im Herbst, 1906

Hier wieder seine Verzweigtheit: Der beliebte Garten auf der Oschwand, diesmal deutlich unter dem Einfluss der französischen Malerei, aber auch von van Gogh.

Bild: Häuser in der Sonne, 1923

Zwischendurch, hier 1923, verliess Amiet die gegenständliche Malerei sogar fast vollständig. Sie sehen hier eine Wucht von aneinanderprallenden, dick aufgetragenen Farben, Expressionismus in Vollendung.

Bild: Amiet mit Churchill, 1952

Cuno Amiet hätte stehenbleiben und immer dasselbe machen können. Aber er hatte den Drang, sich stetig zu wandeln.

1952 wollte sich sogar Englands Premier Winston Churchill von ihm im Malen unterrichten lassen. Wir sehen den Künstler links und Churchill in der Mitte in seinem Landsitz Chartwell.

Bild: Die Aare bei Solothurn mit Blick zur Kathedrale St. Ursen, 1948

Obwohl er die grösste Zeit seines Lebens im Bernbiet verbrachte, vergass Amiet seine Heimatstadt Solothurn nie. So malte er die Aare mit Blick auf die Stadt und die Kathedrale St. Ursen im Jahr 1948 – also mit 80 Jahren.

Bild: Paradies, 1958

Mit 90 Jahren verspürte der Künstler das Bedürfnis nach einer letzten grossen Aussage. In monumentalem Format malte er «Das Paradies» mit Adam und Eva, einem Lamm und einem Schwanenpaar. Im goldenen Schimmer aber dominiert ein Engel.

Bild: Anna Amiet, o.J.

Die 55 gemeinsam mit «Änni» verbrachten Jahre waren für Amiet arbeitsam, diszipliniert und ausserordentlich glücklich. Nie wurde Cuno Amiet müde, seine schöne Frau zu malen. Und als er achtzig wurde, dichtete der Künstler:

«O Frau, die ich erwählet hab,
Die ihre gute Seel’ mir gab
Und die mir hilft, geheim, voll Kraft
Ihr danke ich, was ich erschafft.»

IV.  Willi Ritschard (1918–1983): Arbeiter im Bundesrat

Bild: Bundesrat Ritschard

Solothurn hat dem Schweizer Bundesstaat sechs Bundesräte geschenkt. Der populärste war Willi Ritschard – Bundesrat von 1973 bis zu seinem Tod 1983.

1. Rednergabe und Persönlichkeit

Bild: Der junge Ritschard

Der Sozialdemokrat Willi Ritschard ist 1918 – im Jahr des Generalstreiks – im solothurnischen Deitingen als Sohn eines Schuhmachers geboren, lernte Heizungsmonteur, war dann vollamtlicher Zentralsekretär der Solothurner Bau- und Holzarbeiter, später Ammann seiner Wohngemeinde Luterbach, Kantonsrat, Nationalrat und solothurnischer Regierungsrat.

Bild: Vereidigung als Bundesrat

Im Dezember 1973 gab es eine Dreiervakanz im Bundesrat. Keiner der offiziell von den Parteien Nominierten wurde gewählt. Gleich im ersten Wahlgang obsiegte Willi Ritschard als Nachfolger von Hans Peter Tschudi. Etliche SP-Parlamentarier verliessen den Saal unter Protest (hier sehen Sie ihn bei der Vereidigung mit Hans Hürlimann von der CVP) –, denn er war ein Vertreter des gewerkschaftlichen, eher konservativen Parteiflügels und der erste eigentliche Arbeiter im Bundesrat.

Über seine Wahl war er begeistert. Er war, wie sich seine Tochter erinnert, «euphorisch» und habe sich «wahnsinnig gefreut». Doch sollte ihn schon bald genug der graue Bundesberner Alltag einholen. Er war darum oft betrübt, schweigsam, traurig.

Bild 34: Redner Ritschard

Mit Willi Ritschard hatte die Schweiz einen Bundesrat mit viel Geist, Herz und Seele, und dies spürte jeder, der ihn sah und hörte. Er war ein volksnaher Redner, er wollte überzeugen und verstanden werden. Und er konnte auch Kompliziertes so ausdrücken, dass alle ihn verstanden. Als junger Nationalrat habe ich manches von ihm gelernt. Zum Beispiel sein Grundsatz, wie er sagte: «Wir müssen nicht nur lernen, einfach zu sprechen. Wir müssen auch lernen, einfach zu denken.»

2. Verkehr, Energie und Umwelt

Bild: Kaiseraugst-Besetzung

Der Arbeiterbundesrat wurde zuerst Chef des Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartements. Er wusste, wieviel gerade die Arbeiter dem technischen Fortschritt, der Energieversorgung, aber auch dem fast für alle erschwinglichen Auto verdankten. Er war ein entschiedener Befürworter der Kernenergie, was dann zu Konflikten mit seiner Partei führte. Die Besetzung des Kaiseraugst-Geländes schmerzte ihn. Er hielt den Atomstrom als bessere Alternative zum Erdöl. Ritschard vertrat immer eine realistische Politik und sprach: «Unter einer gesunden Umwelt verstehe ich auch eine Umwelt, die alle Menschen ernähren und ihnen ein menschenwürdiges Leben ohne Hunger garantieren kann.» Den Warnern vor der Technologie – in seiner Partei zahlreich anzutreffen – entgegnete er einmal, diese schrieben ihre Traktate schliesslich auch nicht bei Kerzenlicht.

Bild: mit Peter Bichsel

Willi Ritschard unternahm ausgedehnte Jura-Wanderungen mit dem Oltner Schriftsteller Peter Bichsel. Durch die Zusammenarbeit mit Bichsel entstanden die legendären Reden – und die noch legendäreren Sprüche.

An die Adresse gewisser Autofahrer sagte Ritschard etwa: «Was nützt ein Tiger im Tank, wenn ein Esel am Steuer sitzt.»

Oder: «Einer, der unter die Räder kommt, fragt nicht mehr lange nach der Automarke.»

Oder, schon allgemeiner: «Nicht jeder, der schweigt, ist ein Philosoph. Es gibt auch verschlossene Schränke, die leer sind.»

Oder: «In den Diktaturen darf man nichts sagen, muss alles nur denken. In der Demokratie darf man alles sagen, aber keiner ist verpflichtet, sich dabei etwas zu denken.»

Tiefe Weisheiten – in volkstümlichen Worten.

Bild: Erklärender Ritschard

Und Peter Bichsel hat erzählt, dass sich sein Freund Ritschard am Wochenende oft vor dem Montag fürchtete, weil er wieder nach Bern musste. Nicht nur die politischen Gegensätze waren der Grund: Volkstümlichkeit und Volksbeliebtheit sind gefährlich. Seine Tochter hat sich vor zwei Jahren erinnert: Willi Ritschard sei von seinen Bundesratskollegen regelrecht «gemobbt» worden. Ich fürchte, das ist ernst zu nehmen. Ich kann mir gut vorstellen, dass hinter dem inszenierten Kollegialsystem schon damals viel Neid auf seine Popularität, viel Dünkel von akademisch-juristisch besser Gebildeten und besseren Fremdsprachen-Könnern versteckt war.

Ritschard, ein Hüne von Gestalt, mit grossen Arbeiterhänden, der sprach, lebte und schwitzte wie alle, strahlte ein grosses Charisma aus. Alle glaubten, sie hätten Ritschard verstanden. Aber sie haben ihm gerade deswegen manchmal zu wenig zugehört. Seine Person wurde stärker als seine Sache, was er schmerzlich empfand.

Aber Ritschard suchte und brauchte den Kontakt mit den Menschen. Er liebte sie. So sagte er bei der Feier seines Bundespräsidiums im Dezember 1977 auf der St. Ursentreppe: «Hier in Solothurn spüre ich das, was man Heimat und Verwurzelung nennt. Ich sehe hier nicht einfach Menschen. Ich sehe Gesichter, die mir vertraut sind.»

Er wollte durchaus auch anerkannt und geliebt werden. Nachdem er einmal nach einer Rede die Zuschauer fragte, ob er gut gesprochen habe, und diese das bejahten, meinte er aufbrausend: «Dänn säged’s doch au!»

3. Leere Bundeskasse

Bild: Ritschard in der Bundeskasse

Als Willi Ritschard 1980 das Finanzdepartement übernehmen musste, klagte er: «Bei uns muss ein Finanzminister selber in die Bundeskasse hocken, damit etwas drin ist!» Denn sein Vorgänger Georges-André Chevallaz habe ihm «ausser einem grossen Loch in der Staatskasse nichts in die Hand gedrückt».

Aber es sei halt beim Bund wie in gewissen anderen Firmen: «Wenn die Buchhaltung nicht mehr stimmt, wechselt man entweder die Zahlen oder dann den ‘Gring’».

Nur ein finanziell gesunder Staat konnte für ihn ein gesunder Staat sein. So hielt er schliesslich die Bundesfinanzordnung von 1981 als seinen grössten politischen Erfolg.

Bild: nachdenklicher Ritschard

Dahinter standen Ritschards lobenswerte finanzpolitischen Grundsätze, die durchaus auch für heute, gerade für heute, gelten. Er sagte: «Schulden machen ist für den Staat nicht schwer. Es kommt selten vor, dass ein Staat Pleite macht. Das überlässt er normalerweise seinen Bürgern. Aber geprellt werden letztlich die Sparer und die wirtschaftlich Schwachen. Der Staat entschuldet sich auf dem Buckel der Sparer und Rentner.» Hört, hört. Das war 1980 und nicht 2020. Aber heute ist es noch nötiger denn je!

Manchmal drückte sich Willi Ritschard undiplomatisch-direkt aus, was seiner Beliebtheit im Volk keinen Abbruch tat – im Gegenteil. Aber seine Beliebtheit im bundesrätlichen Kollegium hat dies nicht gerade gefördert.

Bild: Empfang der britischen Königin

Am Vorabend dieses Banketts beim Staatsempfang von Königin Elizabeth (wir sehen Ritschard ganz links) gab es einen grossen Pressewirbel, weil er am Vortag an einer 1.-Mai-Rede gesagt hatte: «Dass so viele Schweizer die Heftli kaufen, in denen bis zum Gloschli alles beschrieben ist, was so eine Königin trägt, verwundert mich eher.» Für Nicht-Solothurner: «Gloschli» heisst Unterwäsche…

Bild: mit Greti zuhause

Seine ungekrönte Königin war seine Ehefrau Greti. Er genoss seinen Rückzugsort im vertrauten Heim in Luterbach, wo ihm die Gattin die praktischen Alltagssorgen abnahm und wo er den rauen Politalltag hinter sich lassen konnte.

Bild: wandernder Ritschard von hinten

Im Oktober 1983 schrieb der 65-Jährige Willi Ritschard sein Rücktrittsschreiben auf Ende der Amtsdauer im Dezember. Zwei Wochen später starb er, viel zu früh, auf einer Wanderung in seinem geliebten Jura.

Sein Name gehört zu jenen Bundesräten, die nicht vergessen gehen. Entscheidend waren weniger konkrete politische Vorlagen oder Leistungen, sondern seine Glaubwürdigkeit und sein träfes Wort – das ist mehr wert als ein konkretes Gesetz. Es sind Lebensweisheiten.

So meinte er einmal: «Eine Tatsache bleibt immer nackt, auch wenn man sie nach der letzten Mode kleidet.»

Und am Medientag der Schweizer Journalisten bedauerte er, dass man nur drei Menschen miteinander auf den Mond schiessen könne.

Und erst recht aus dem wirklichen Leben stammt Ritschards berühmtester Ausspruch: «Je höher der Affe klettert, desto mehr sieht man nur noch seinen Hintern.»

Mit diesem heiteren Schluss entbiete ich Ihnen meine allerbesten Wünsche für ein glückliches, gesundes und erfreuliches neues Jahr.

Christoph Blocher
Christoph Blocher
a. Bundesrat Herrliberg (ZH)
 
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