Botschafter Dr. Michael Ambühl, Chef des Integrationsbüros EDA/EVD
Besten Dank für die freundliche Einladung, vor Ihrer Delegiertenversammlung zu den kürzlich zwischen der Schweiz und der EU abgeschlossenen bilateralen Verhandlungen II zu sprechen. Diese Einladung ist für mich Ehre und Herausforderung zugleich. Ehre, weil man ja schliesslich nicht jeden Tag die Gelegenheit erhält, vor einer so einflussreichen Partei wie der Ihrigen sprechen zu können. Herausforderung, weil ich natürlich auch die Skepsis kenne, die in Ihrer Partei gegenüber Teilen des ausgehandelten Vertragswerkes besteht und die wohl in einigen der anschliessenden Referate zum Ausdruck gebracht werden wird.
Ich werde meine Ausführungen in zwei Teile gliedern: Im ersten Teil möchte ich die Bilateralen II im Allgemeinen vorstellen, im zweiten Teil zu Schengen / Dublin im Speziellen sprechen.
Die Bilateralen Verhandlungen II
Das unter dem Titel „Bilaterale II“ zusammengefasste Verhandlungspaket umfasst insgesamt neun Verhandlungs-Themen, bei denen es einerseits um wirtschaftliche Interessen geht, wie jene der Nahrungsmittelindustrie, des Finanzplatzes oder des Tourismus. Und andererseits um die Zusammenarbeit in weiteren, politischen Bereichen, so etwa die innere Sicherheit und die Asylpolitik (Schengen / Dublin) oder Bereiche wie Umwelt, Kultur, Bildung und Statistik.
Die Bilateralen II sind die konsequente Fortsetzung der bilateralen Abkommen I, die im Jahr 2000 vom Volk deutlich angenommen worden sind. Sie stellen die Fortführung des bewährten bilateralen Weges dar. Dieser wurde 1992 nach dem EWR-Nein eingeschlagen. Er besteht zum einen darin, konkret anstehende Anliegen und Probleme in den Beziehungen zwischen der Schweiz und ihrer mit Abstand wichtigsten Partnerin, der EU, pragmatisch zu regeln. Zum andern geht es darum, das bestehende Vertragswerk auszubauen und zu systematisieren, dort, wo dies im gegenseitigen Interesse ist. Die diesbezüglichen Verhandlungen stellen ein Geben und Nehmen dar, so wie wir das auch aus dem Alltag kennen: Ihr Nachbar bittet Sie beispielsweise darum, die Schatten gebende Hecke zu stutzen. Sie sind bereit, auf das Anliegen einzutreten, möchten aber, dass im Gegenzug das gemeinsame Zufahrtssträsschen asphaltiert wird und der Kostenverteilschlüssel neuen Umständen angepasst wird. Sie setzen sich gemeinsam an den Tisch und regeln die Fragen auf gutnachbarliche Weise.
Die Weiterführung des bilateralen Weges schien jedoch vorerst nach den Bilateralen I schwierig. Vertreter der EU waren der Meinung, die Schweiz sei zu gut weggekommen. Sie zeigten sich daher skeptisch gegenüber neuen Verhandlungen. Die EU war schliesslich zur Eröffnung einer neuen Verhandlungsrunde bereit, weil sie ihrerseits zwei wichtige Anliegen an die Schweiz hatte: Die Schweiz sollte erstens in das von der EU geplante System der grenzüberschreitenden Zinsbesteuerung eingebunden werden. Zweitens wollte Brüssel die Zusammenarbeit mit der Schweiz bei der Betrugsbekämpfung im Bereich der indirekten Steuern, insbesondere beim Zigarettenschmuggel, intensivieren.
Wir traten auf die Begehren der EU ein, stellten aber die Bedingung, dass auch all jene Bereiche verhandelt werden müssten, die uns interessierten, und dass die Verhandlungen parallel zu führen seien. Unsere Anliegen betrafen die Teilnahme der Schweiz an Schengen / Dublin (polizeiliche Zusammenarbeit und Asylwesen) sowie die Überbleibsel („Leftovers“) aus den Bilateralen I.
Die Verhandlungen dauerten insgesamt rund zwei Jahre. Sie konnten vor zwei Monaten abgeschlossen werden. Die getroffene Einigung hält der Bundesrat für ausgewogen. Die zentralen Forderungen der Schweiz – Abschluss in allen Dossiers inklusive Schengen / Dublin und Schutz des Bankgeheimnisses – sind erfüllt. Umgekehrt kooperiert die Schweiz bei der grenzüberschreitenden Zinsbesteuerung durch die Erhebung eines Steuerrückbehalts auf Zinserträge von EU-Bürgern (Dossier Zinsbesteuerung). Im Weiteren dehnt sie im Rahmen der Betrugsbekämpfung ihre Zusammenarbeit auf alle schweren Delikte im indirekten Steuerbereich (Zolldelikte [Schmuggel], Mehrwertsteuerdelikte) aus.
Nutzen bringen die bilateralen Abkommen II der Schweiz sowohl in diversen wirtschaftlichen Sektoren, als auch in anderen wichtigen Bereichen: Für die Wirtschaft geht es namentlich um folgende Interessen:
Die Interessen des Finanzplatzes Schweiz werden im Verhältnis zur EU dank klaren vertraglichen Rahmenbedingungen auf Dauer gewahrt (Dossiers: Zinsbesteuerung, Betrugsbekämpfung, Schengen / Dublin).
Durch Zollabbau verbessern sich die Exportchancen der Nahrungsmittelindustrie (Dossier: Verarbeitete Landwirtschaftsprodukte).
Durch das Schengen-Visum wird der Tourismus-Standort Schweiz gestärkt (Dossier: Schengen / Dublin).
Europaweit tätige Schweizer Holdings werden steuerlich entlastet (Dossier: Zinsbesteuerung).
Zusätzlich wird die Zusammenarbeit auf weitere wichtige Politikbereiche ausgedehnt:
In der Sicherheitspolitik, wo es darum geht, die grenzüberschreitende Kriminalität wirksamer zu bekämpfen (Dossier: Schengen);
und in der Asylpolitik, wo wir ein Instrument gegen den Asylmissbrauch erhalten (Dossier: Dublin).
Kosten entstehen der Schweiz durch
die Einführung des Steuerrückbehalts (Abkommen über die Zinsbesteuerung)
und durch die Einbusse von Zolleinnahmen (Abkommen über die verarbeiteten Landwirtschaftsprodukte).
Zudem muss die Schweiz finanzielle Beiträge an die Media-Programme und an die Europäische Umweltagentur entrichten.
Weitere Kosten entstehen durch die Inkraftsetzung des Statistik-Abkommens und den Betrieb von Schengen / Dublin.
Wie geht es weiter? Nach Abschluss der Vernehmlassung im September werden die ausgehandelten Verträge formell unterzeichnet und dem Parlament unterbreitet. Die Abkommen sollen in separaten Genehmigungsbeschlüssen, aber in einer Sammelbotschaft, vorgelegt werden. Der Bundesrat beantragt, alle Abkommen (ausser die verarbeiteten Landwirtschaftsprodukte) dem fakultativen Referendum zu unterstellen. Der Bundesrat stützt sich bei diesem Vorschlag auf die Abklärungen einer vom Bundesamt für Justiz geleiteten interdepartementalen Arbeitsgruppe. Die verfassungsrechtlichen Kriterien für eine Unterstellung unter das obligatorische Referendum (Art. 140 BV) werden von keinem der Abkommen erfüllt. Das obligatorische Referendum käme bei einem Beitritt zu einer Organisation für kollektive Sicherheit oder zu einer supranationalen Gemeinschaft zum Zug. Dies ist auch bei Schengen / Dublin nicht der Fall, da eine Schengener Zusammenarbeit keinen Beitritt zu einer supranationalen Gemeinschaft bedeutet.
Schengen / Dublin
Damit habe ich bereits den zweiten Teil meiner Ausführungen, das Thema Schengen / Dublin, angesprochen.
In Bezug auf dieses Dossier zirkulieren meines Erachtens diverse Missverständnisse. Es liegt mir daran, klar zu stellen, was die beiden zusammengehörenden Abkommen Schengen und Dublin bringen und was sie nicht bringen:
Was bringt Schengen/Dublin der Schweiz?
Mehr Sicherheit
Es ist eine Binsenwahrheit, dass wir in einer mobilen Welt leben. Wir reisen ins Ausland in die Ferien und empfangen ausländische Geschäftsleute und Touristen in der Schweiz. Leider sind nicht nur rechtschaffene Leute wie wir unterwegs, auch Gauner und Kriminaltouristen sind mobil. Sie nutzen die Landesgrenzen gezielt, weil diese ein Hindernis für die Ermittlungs- und Strafbehörden darstellen. Schengen bietet neue Zusammenarbeitsformen für unsere Polizeibehörden. Das Schengener Informationssystem (kurz: SIS) erlaubt es zum Beispiel, gesuchte Schwerverbrecher oder gestohlene Fahrzeuge innert Minutenschnelle in ganz Europa auszuschreiben.
Der grosse Vorteil des SIS gegenüber anderen Systemen – wie beispielsweise Interpol – ist das Tempo, mit welchem die Information über eine gesuchte Person oder gestohlenen Gegenstand verbreitet wird. Als vor einem Jahr zwei deutsche Kindermörder im Kanton Solothurn zufällig erkannt wurden, musste die Polizei zuerst mühselig herausfinden, ob diese Personen wirklich gesucht wurden, bevor sie sie festnehmen konnte. Zudem hätten unsere Konsulate aufgrund von Schengen die Möglichkeit, Einreisesperren anderer Staaten für gefährliche oder unerwünschte Personen, die ein Visum für die Schweiz beantragen, zu erkennen. Die schweizerische Vereinigung der Kriminalpolizeichefs fordert denn auch schon seit Jahren eine Zusammenarbeit im Bereich Schengen.
Verhinderung von systematischen Grenzkontrollen durch unsere Nachbarländer
Als Deutschland Anfang März dieses Jahres plötzlich systematische Grenzkontrollen an der Schweizer Grenze einführte, kam es zu grossen Staus und Behinderungen. Die Schweiz musste erfahren, dass sie aus EU-Sicht eine Schengen-Aussengrenze ist. Alle unsere Nachbarländer könnten eigentlich solche Kontrollen durchführen; sie könnten jederzeit die Kontrollintensität zum Schaden unserer Wirtschaft erhöhen. Wenn die Schweiz bei Schengen dabei ist, haben wir die Absicherung, dass dies nicht mehr möglich ist.
Vorteile für den Tourismus
Der Einbezug ins Schengen-Visum hat auch Vorteile für den Tourismus und den Reiseverkehr allgemein. Heute benötigt ein indischer oder ein chinesischer Tourist – um zwei aktuelle Beispiele zu nennen – auf seiner Europareise ein Visum für den Schengen-Raum und ein zweites Visum für die Schweiz, wenn er aufs Jungfraujoch reisen will. Viele Touristen verzichten auf einen Abstecher in die Schweiz, weil sie den Aufwand und die Kosten für ein zusätzliches Visum scheuen. Schweizer Tourismusexperten rechnen mit einem deutlichen Zuwachs von Touristen aus Übersee, wenn man mit dem Schengen-Visum auch in die Schweiz reisen kann.
Entlastung des Asylwesens
Besonders bedeutend sind die Vorteile einer Assoziation der Schweiz an Dublin. Das Übereinkommen von Dublin regelt, welcher Vertragsstaat für die Behandlung eines Asylgesuchs zuständig ist. Dublin nimmt die einzelnen Staaten besser in ihre Verantwortung und verhindert, dass für ein und dieselbe Person mehrere Asylverfahren durchgeführt werden müssen. D.h. mit Dublin können Asylgesuche nur noch in einem einzigen Land – dem Erstasylland – gestellt werden. Mehrfachverfahren sind ineffizient und teuer. Die wichtigste Neuerung ist die Fingerabdruckdatenbank Eurodac, die seit Anfang Januar 2003 in Betrieb ist. Eine erste Bilanz über das Funktionieren von Eurodac ist positiv und hat gezeigt, dass insbesondere auch unsere Nachbarn gut mitmachen.
Dass Dublin im Interesse der Schweiz liegt, zeigt alleine ein Blick auf die Karte. Die Schweiz ist von „Dublin-Staaten“ umgeben. Bereits heute sind schätzungsweise 20 Prozent der in der Schweiz gestellten Asylgesuche Zweitgesuche. Ohne Mitmachen bei Dublin dürfte die Schweiz zur bevorzugten, einzigen Ausweich-Adresse für Asylsuchende werden, die in in der EU eine Absage erhalten haben. Mit Dublin spart die Schweiz rund 100 Millionen Franken pro Jahr.
Was bringt Schengen/Dublin nicht?
Keine offenen Grenzen
An unseren Grenzen wird sich nicht viel ändern. Warum? Erstens weil die Schweiz nicht Mitglied der Zollunion wird und daher weiterhin Zollkontrollen durchführen wird. Mit den Warenkontrollen werden selbstverständlich jeweils auch die Personen mitkontrolliert. Zweitens darf man nicht vergessen, dass schon heute an unseren Grenzen keine systematischen Kontrollen durchgeführt werden. Von den rund 100 Grenzübergängen werden nur ca. 20 rund um die Uhr kontrolliert. Und von den 700’000 Personen, die täglich unsere Grenzen überqueren, können nur rund 2-3 Prozent kontrolliert werden. Das Grenzwachtkorps kann aus Effizienzgründen keine systematischen, verdachtsunabhängigen Personenkontrollen an der Grenze durchführen. Deshalb setzt die Schweiz bereits heute 40 Prozent ihrer Grenzwächter mobil im grenznahen Raum ein. Solche mobilen Kontrollen sind dank des Überraschungseffekts wirksamer als statische Kontrollen an Grenzübergängen. Das System der mobilen Kontrollen kann auch mit Schengen beibehalten werden.
Fazit: Das GWK bleibt weiterhin auf Posten. Aufgrund von Schengen wird keine einzige GWK-Stelle abgebaut. An der Grenze wird sich somit faktisch wenig ändern, ausser dem Umstand, dass unsere Grenzwächter dank Zugang zum SIS über ein wichtiges zusätzliches Instrument verfügen. Die heute sehr beeindruckende Arbeitsbilanz des GWK dürfte sich daher aufgrund von Schengen noch steigern.
Kein Eingriff in die schweizerische Waffentradition
Die Bereiche Militär und Polizei werden nicht von Schengen erfasst. In unserem Abkommen wird dies durch eine gemeinsame Erklärung ausdrücklich bekräftigt. Die Armeeangehörigen können also ihre Dienstwaffen auch unter Schengen weiterhin im Schlafzimmer aufbewahren, wenn ihnen der Sinn danach ist. Auch auf die Jungschützenkurse hat Schengen keinen Einfluss. Das Ziel der Schengener Waffenregeln ist die Verhinderung des Schusswaffen-Missbrauchs. Die Schweiz wird ihren Spielraum bei der Umsetzung von Schengen ausnutzen und zum Beispiel kein zentrales Waffenregister einführen.
Kein Eingriff in die kantonale Polizeihoheit
Die Kantone sind weiterhin hauptverantwortlich für den Schutz der inneren Sicherheit. Wenn das Grenzwachtkorps mobile Kontrollen im Grenzraum vornimmt, dann geschieht dies nur in Absprache und unter Aufsicht der jeweiligen Kantonspolizei.
Kein Souveränitätsverlust
Schengen/Dublin bringt keinen Souveränitätsverlust. Die Schweiz hat ein angemessenes Mitgestaltungsrecht bei der Weiterentwicklung des Schengen Acquis ausgehandelt. Sie kann direkten Einfluss auf den Inhalt des EU-Rechts nehmen. Jede neue Massnahme stellt rechtlich gesehen einen neuen Vertrag dar, den die Schweiz gemäss ihren internen Verfahren genehmigen muss. Jede Änderung muss somit gemäss unserer Verfassung vors Parlament und – im Fall eines Referendums – vors Volk, das das letzte Wort hat! Sollte die Schweiz die Änderung ablehnen, fällt der Vertrag, dann allerdings der ganze Schengener Vertrag, dahin.
Keine Aufweichung des Bankgeheimnisses
Das Bankgeheimnis wird auch unter Schengen gewahrt. Sollte es in Zukunft zu einer Änderung des entsprechenden EU-Rechts in diesem Bereich kommen, muss die Schweiz, im Unterschied zur generellen Übernahmeregelung, diese Änderung nicht übernehmen. Dies wird im Schengen-Vertrag ausdrücklich garantiert. Bankenvertreter haben deshalb den ausgehandelten Vertrag begrüsst.
Zusammenfassung und Schluss
Ich komme zum Schluss und möchte meine Ausführungen wie folgt zusammen fassen:
1. Die Bilateralen II sind die Fortsetzung des bewährten bilateralen Wegs, den die Schweiz seit dem EWR-Nein von 1992 eingeschlagen hat. Sie umfassen Themen, die entweder unsere wirtschaftlichen Interessen betreffen oder die sonst wichtige Anliegen der Bevölkerung aufnehmen: Innere Sicherheit und Asylmissbrauch. Der Bundesrat hat diese Verhandlungen aus der Sicht von Beobachtern konsequent geführt und alle zentralen Anliegen durchgebracht. Fast wäre man geneigt zu sagen: Vorgehen und Resultat sollten eigentlich Ihre Zustimmung finden.
2. Der Charme der bilateralen Abkommen liegt darin, dass sie in keiner Art und Weise die Entscheidung vorweg nehmen, ob die Schweiz der EU eines Tages beitreten soll oder nicht.
3. Das Verhandlungsergebnis betreffend Schengen / Dublin erlaubt es der Schweiz – ohne der EU beitreten zu müssen – in den zentralen Bereichen innere Sicherheit und Asyl mit unseren europäischen Partnern zusammenzuarbeiten und dabei auch den schweizerischen Anliegen in Sachen Bankgeheimnis und Waffenrecht Rechnung zu tragen.
Alles in allem: Mit den Bilateralen II ist es der Schweiz gelungen, einen weiteren Schritt zur Festigung ihrer engen Beziehungen zur EU zu machen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.