Regierung, Wirtschaftsverbände und manche Medien haben ihre Kampagne gegen die Begrenzungs-Initiative schon eröffnet. «Personenfreizügigkeit bringt Wachstum und kaum Probleme», trommeln sie – genauso stereotyp wie falsch. Aber die Ersatzreligion hat System. Sie lenkt von den wahren Problemen ab.
Noch jubeln sie über den gerade erschienenen «16. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen Schweiz–EU» des Seco. Der Report des Staatssekretariats zeige erneut, dass die Personenfreizügigkeit Wachstum und kaum Nachteile bringe. Dabei vergessen sie den Untertitel: «Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf Arbeitsmarkt und Sozialversicherungen». Auch der Observatoriumsbericht entspringt der engen Perspektive von Regierung und Wirtschaftsverbänden.
Diese starren erstens nur auf den Arbeitsmarkt. Dabei drohen dort aus ökonomischer Sicht sowieso keine Probleme, solange der Arbeitsmarkt hinreichend flexibel bleibt. Denn sobald die Zuwanderung Lohndruck bringt, sinken ja auch die Lohnkosten, was es für Investoren wieder attraktiv macht, in neue Arbeitsplätze zu investieren. Damit bleiben die Löhne konstant beziehungsweise wachsen dank allgemeinem technischem Fortschritt mit der normalen Rate. Zweitens werden andauernd Wachstum insgesamt und Wachstum pro Kopf vermischt. Natürlich bringt das zuwanderungsbedingte Bevölkerungswachstum ein Wachstum der Gesamtwirtschaft. Pro Kopf aber schadet es. Durch die Verknappung und Verteuerung von Land, Infrastruktur, Umweltressourcen und Selbstversorgungszielen belastet es die Mehrheit der Bevölkerung – wobei viele Schäden nicht im Bruttoinlandprodukt erscheinen.
Ein Beispiel ist die Klimapolitik. Die Schweiz könnte ihre CO2-Reduktionsziele recht problemlos erfüllen, würde die Bevölkerung nicht so stark wachsen. Oder umgekehrt: Weil die Regierung die Emissionsreduktionsziele in Gesamtmengen festgelegt hat statt pro Kopf, wird es durch das starke zuwanderungsbedingte Bevölkerungswachstum enorm teuer, die Ziele zu erreichen. Regierungen sollten halt Kopfrechnen können.
Entgegen aktuellen Medienberichten geht der Zuwanderungsdruck nicht zurück, sondern wächst stark. Gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Migration ist die Nettozuwanderung von Januar bis März, den letzten Monaten ohne Lockdown, gegenüber dem Vorjahr geradezu explodiert: um 34,7 Prozent. Die Zuwanderung war damit wieder deutlich stärker als von 2016 bis 2018; laut den neuesten Zahlen ist sie auch von Januar bis Mai trotz Lockdown noch deutlich gewachsen – jene aus der EU um 16,6 Prozent. Doch darüber berichten die Medien kaum. Weshalb aber kämpfen Regierung, Wirtschaftsverbände und manche Medien so verbissen für etwas, das der Bevölkerung schadet? Die Bilateralen I sind es nicht, denn auch bezüglich deren Nutzen wird massiv übertrieben. Vielmehr profitieren manche von Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsaufblähung.
* Diese Kolumne von Reiner Eichenberger, Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik Universität Freiburg, ist am 2. Juli 2020 in der «Handelszeitung» erschienen und wurde mit der freundlichen Genehmigung des Autoren abgedruckt.